Interview: Karim Aïnouz über seine Film »Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão«

Foto: Karim Aïnouz (2005)

Foto: Karim Aïnouz (2005)

Ihr neuer Film basiert auf dem Roman »Die vielen Talente der Schwestern Gusmão« von Martha Batalha. Was hat Sie an dem Stoff gereizt?

Als ich das Buch las, erkannte ich sofort Parallelen zu meinem eigenen Leben und den Frauen, mit denen ich aufgewachsen bin, vor allem meine Mutter. Ich konnte mich absolut damit identifizieren, und es berührte mich sehr. Zugleich ist es ein wundervolles Porträt der Frauen dieser Generation. Und ich wollte auf den Rechtsruck in Brasilien reagieren, weil der Roman auch davon handelt, wie sich Frauen in dieser patriarchalen Gesellschaft behaupten.

Was waren die Herausforderungen, den Roman für die Leinwand zu adaptieren?

Der Roman war sehr viel mehr eine Chronologie von Ereignissen und basierte auf den Frauenleben aus dem Umfeld der Autorin. Was mich vor allem interessiert hat, war, wie diese beiden Schwestern durch einen sehr autoritären Vater getrennt wurden und welche Folgen das für ihr ganzes Leben hat. Das haben wir noch mehr in den Fokus gerückt. Wir haben Dinge in der Handlung verändert, aber die Seelen der Figuren bewahrt.

Der Film ist ein tropisches, farbiges Melodrama, in dem die Schwüle Brasiliens zu spüren ist. Wie haben Sie den Ton und die Atmosphäre des Films gefunden?

Es war sehr intuitiv und zugleich wollte ich Klischees vermeiden. Ich wollte ein spezifisch brasilianisches und möglichst zeitgemäßes Melodram, das für ein heutiges Publikum relevant ist. Und das hat mit den Körpern zu tun, die hier sehr präsent sind. Klassische Melodramen sind oft sehr puritanisch, und das würde diesen Frauen nicht gerecht. Ich zeige auch keine weinenden Frauen. Es geht um Widerstand in meinem Film, die Tränen behalte ich dem Publikum vor. Ich habe viel darüber nachgedacht, was Melodramen unterschiedlicher Kulturkreise voneinander unterscheidet, ein ägyptisches von einem mexikanischen etwa. Das hier ist ein dezidiert brasilianisches Melodram.

Was verstehen Sie genau darunter?

Der Originaltitel des Films und auch des Romans lautet übersetzt: »Das unsichtbare Leben der Euridice Gusmão«. Ich mag den deutschen Titel sehr, denn Sehnsucht ist sehr nah an dem, was wir auf Portugiesisch saudade nennen. Der Begriff beschreibt unter anderem das Vermissen von Menschen, die ausgewandert sind und die Hoffnung, sie eines Tages wiederzusehen. Von dieser Melancholie, diesem Weltschmerz handelt der Film. Das Brasilianische sind auch die Frauenfiguren, ihre Art zu gehen, wie sie sprechen, wie sie miteinander umgehen. Und auf der Bild- und Tonebene ist der Film natürlich immer von dieser üppigen Natur infiziert, dem Regenwald, der Rio de Janeiro umgibt. Die feuchte Hitze, der Exzess der Farben und der Musik, die Charaktere, nichts ist minimalistisch. Diese Geschichte kann so nur an diesem Ort stattfinden.

Inwieweit reflektiert der Film die Situation von Frauen in Brasilien heute?

Natürlich hat sich viel verändert in den Jahrzehnten, von der Pille über die sexuelle Revolution bis zum Kampf um Frauenrechte in den Siebzigern. Aber es droht jetzt durch die ultrakonservativen Mächte im Land wieder verloren zu gehen. Die Gewalt gegen Frauen nimmt zu. Was sich in all der Zeit am wenigsten verändert hat, sind die Männer und ihre Ignoranz. Wir sind noch immer eine absolut toxische Machogesellschaft.

Nebenbei geht es auch um die Klassengesellschaft und soziale Ungerechtigkeit dort …

Vor allem Rio ist ein extrem segregierter Ort. Arm und Reich begegnen sich oft überhaupt nicht, die Leute bleiben in ihren Vierteln unter ihresgleichen. Das hat mit Klassenzugehörigkeit zu tun, aber auch mit Ethnizität. Und das zeige ich auch im Film. Mich haben diese unterschiedlichen Frauen interessiert und das weibliche Netzwerk der Solidarität, das zumindest in Teilen besteht.

Hat dieses Interesse oder die Beschäftigung mit diesen Themen auch persönliche Gründe?

Ich stamme aus einer Stadt im Norden Brasiliens. Mein Vater war Algerier, meine Mutter zog mich allein auf, ich bin queer. Das treibt mich als Filmemacher an, ich kann nicht bloß eine Geschichte erzählen, sie muss Relevanz haben, nicht nur für mich persönlich, sondern auch politisch. Pure Unterhaltung ist ein Konzept, das für mich sinnlos ist.

Sie sind mit 18 Jahren zu Ihrem Vater nach Berlin gezogen, haben später in New York studiert und die letzten zehn Jahre in Berlin gelebt. Prägt dieser Blick aus der Distanz auch Ihr Bild von Brasilien?

Sicherlich. Auch ich spüre saudade, habe Sehnsucht nach diesem Land, auch wenn ich aus freien Stücken weggegangen bin. Zugleich hilft mir die Distanz, nicht unterzugehen im alltäglichen Kampf hier. Eigentlich ist es keine Distanz, sondern ein Dazwischensein.

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