Bilder des Wandels

Wie der Regisseur Jia Zhang-ke vom Umbruch in China erzählt
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© Rapid Eye Movies

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Der Regisseur Jia Zhang-ke ist der prominenteste Vertreter des aktuellen chinesischen Arthouse-Kinos. Als Angehöriger der »sechsten Generation« chinesischer Filmemacher pflegte er lange einen unmittelbaren, rauen, am Neorealismus geschulten Stil. Mit seiner neuen Arbeit A Touch of Sin scheint er freilich an einen Wendepunkt gekommen zu sein. Gerhard Midding über Jia Zhang-kes Handschrift und seine charakteristischen Themen.

Am Ende scheint sich der Kreis zu schließen. Der Film kehrt zu seinem Ausgangspunkt zurück. Zuvor hat er in vier Episoden, die in vier Ecken Chinas spielen, erzählt, wie Demütigung und Zurücksetzung in schockierenden Gewaltausbrüchen münden. Im Epilog kehrt er heim zu dem Ort, wo alles seinen Anfang nahm. Eine junge Frau bewirbt sich um eine Stelle in einem großen, modernen Industrie­unternehmen in der Provinz Shanxi. Warum sie von so weit hergekommen sei und ihre frühere Stellung aufgegeben habe, wird sie beim Vorstellungsgespräch gefragt. Sie erwidert, arglos und wie selbstverständlich: »Ich wollte mal einen Ortswechsel.«

Die Mobilität ist ein Grundimpuls der Protagonisten von A Touch of Sin. Zu Beginn und meist auch am Ende der Episoden sind sie auf der Reise. Der Zuschauer lernt sie an Orten des Transits kennen, auf Straßen, Bahnhöfen, in Bussen oder Fähren. Behaust sind sie fast nie. In jeder Episode wird einmal nach dem Weg gefragt. Aber die Mobilität ist eine fatale Illusion. Die Lage der Menschen wird sich nicht verbessern, das Glück an einem anderen Ort ein leeres Versprechen bleiben.

Die Mobilität ist auch ein Grundimpuls von Jia Zhang-kes Kino. Der erste Kurzfilm des in Shanxi geborenen Regisseurs spielt vor dem Hintergrund der Massenbewegungen, von denen China alljährlich zur Zeit des Neujahrsfestes ergriffen wird. Seine Figuren träumen unermüdlich vom Anderswo. Die Theatertruppe in Platform (2000) läuft euphorisch einem vorbeifahrenden Güterzug nach. Immer wieder erzählt er von Wanderarbeitern, die ihr Glück in den großen Städten suchen. Aber auch dort ist die Freizügigkeit des Raums eine Illusion. Sarkastisch hat er das 2004 in The World vor Augen geführt, der in einem Vergnügungspark in Peking spielt, in dem die Besucher nachgebaute Sehenswürdigkeiten aus allen Erdteilen bestaunen können. Aber allesamt befinden sich die Figuren, darin liegt die allegorische Kraft der Filme dieses chinesischen Regisseurs, in einem eng umgrenzten Gehege.

Fremde Welt Heimat

In den Jahren, in denen der 1970 geborene Regisseur aufwuchs, war die Beweglichkeit innerhalb Chinas noch stark eingeschränkt. Man brauchte Pässe für den Binnenverkehr. Jungen Menschen standen nur zwei Möglichkeiten offen, ihre Heimatprovinz zu verlassen: der Militärdienst oder das Studium. Jia Zhang-ke schrieb sich zunächst an der Kunsthochschule in Peking ein. Er fing als Zeichner an; später sollte er zwei seiner Dokumentarfilme bildenden Künstlern widmen. Chen Kaiges Gelbe Erde bekehrte ihn zum Kino. Es schien ihm als das ideale Mittel, unmittelbar auf die atemlosen gesellschaftlichen Umbrüche zu reagieren, die China erfassten.

Als er 1996 für seinen ersten Langfilm Xiao Wu, der Taschendieb in seine Geburtsstadt Fenyang zurückkehrte, war er überrascht, wie sehr sich das Leben dort verändert hatte. Seine ersten Filme sind geprägt von dem anderen Blick, mit dem er seine Heimat fortan betrachtete. Sie summieren sich zum Fresko eines tiefgreifenden Wandels. Seinen Charakteren wird die eigene Welt fremd, sie sind schlecht gewappnet für die Umwälzungen und Reformen, die ihrem Dasein auferlegt werden. Der zentrale Widerspruch des gegenwärtigen China – sich einerseits wirtschaftlich zu öffnen, dabei jedoch von einer Kaste regiert zu werden, die sich jeder politischen Öffnung rabiat verschließt – spiegelt sich in den Liebesgeschichten seiner Filme. Seine Charaktere sind reserviert, ihren Gefühlen können sie nicht direkt Ausdruck verleihen, sondern müssen dazu auf Hilfsmittel zurückgreifen: In den frühen Filmen ist es vor allem die Musik, in The World wird die Kommunikation SMS-Botschaften anvertraut, deren euphorischen und irrealen Charakter der Film kenntlich macht, indem er sie durch Animationsszenen illustriert.

Jia Zhang-ke zählt mit Lou Ye, Zhang Yuan, Wang Xiaoshuai und anderen zur sogenannten sechsten Generation des chinesischen Kinos, die sich entschieden distanziert von der vorangegangenen – deren Protagonisten Zhang Yimou und Chen Kaige hatten dem heimischen Film wieder weltweite Aufmerksamkeit verschafft. 1997 formuliert Jia Zhang-ke in einem Manifest die Erzählmoral der neuen Bewegung: Er ziehe es vor, wie ein Amateurfilmer zu arbeiten, statt wie die fünfte Generation Hochglanzprodukte herzustellen.

Das Aufkommen handlicher Digitalkameras befeuert den Aufbruch der Bewegung. Sie nimmt Maß an der Realität, öffnet ein Fenster zu Milieus und Schicksalen, die im offiziellen Kino unsichtbar bleiben. Jia Zhang-ke ist geschult am italienischen Neorealismus, Robert Bresson hat deutliche Spuren in seinem Werk hinterlassen (man achte nur auf die gestische Akribie, mit der in seinen Filmen mit Geld umgegangen wird), er schätzt seinen taiwanesischen Kollegen Hou Hsiao-hsien und ist mit ihm gemeinsam dem Stil YasujirÔ Ozus verpflichtet. In den Anfangsjahren hält er die Kamera auf Abstand zu seinen Figuren, er strebt nach einem objektiven Blick. Die Dauer seiner Einstellungen ist eine Herausforderung an die Konzentration des Zuschauers. Sein Erzählrhythmus soll nicht fließend sein wie im Hollywoodkino. Er setzt Zäsuren, Brüche, die er oft – gleichviel ob in Spiel- oder Dokumentarfilmen –, mit Kapitelüberschriften markiert. Auf Filmmusik kann sein Kino verzichten. Die Tonspur ist bei ihm beredt genug. Tief versenkt sich das Sounddesign in die Kakophonie des Alltags. Allerorten sind Pop und traditionelle Musik zu hören, schallen offizielle Verlautbarungen aus Lautsprechern und dem Radio, laufen im Fernsehen lautstarke Varieté-Sendungen oder Filme von Meistern des Actionkinos aus Hongkong. In Unknown Pleasures zeichnet er 2002 ein Klangbild des Terrors der Zerstreuung in der Konsumgesellschaft.

Sein Mandat: Die Zeugenschaft

Mit der sechsten Generation findet eine unbekannte Vokabel Eingang in den Wortschatz des chinesischen Kinos: Unabhängigkeit. Jia Zang-ke und seine Kollegen agieren unterhalb des Radars der Zensur, die schwer berechenbar, oft der Willkür und individuellen Launen unterworfen ist. Ihre Filme stoßen weltweit auf Aufmerksamkeit, kommen daheim jedoch kaum in den Verleih. Sie finden ihr Publikum an Universitäten und in privaten Filmclubs, werden als Raubkopien verbreitet. Jia Zhang-ke findet rasch im Ausland Koproduzenten, gewinnt zunächst den Japaner Takeshi Kitano und später den französischen Produzenten Marin Karmitz als verlässliche Partner. Er bildet um sich ein verschworenes Team, in deren Zentrum seine häufige Hauptdarstellerin und Ehefrau Zhao Tao und der Kameramann Yu Lik-wai stehen.    

The World markiert 2004 einen Wendepunkt seiner Karriere. Es ist der erste Film, dessen Drehbuch er dem Filmbüro vorlegt und mit staatlicher Unterstützung realisiert. Er kommt in den offiziellen Verleih und läuft dort, ebenso wie 2006 sein Nachfolger Still Life, mit beträchtlichem Erfolg. Auch stilis­tisch ist The World ein Umbruch. Er ist in Cinemascope und HD sowie in prachtvollen Dekors gedreht. Eine ungekannte visuelle Dynamik kommt in eleganten, nicht mehr mit der Handkamera, sondern der Steadycam gedrehten Plansequenzen zum Vorschein. Das Ambiente ist nicht mehr so schäbig wie in den früheren Filmen. Stattdessen ist es eine ebenso glitzernde wie triste Kulissenwelt, in der die Figuren sich so unbehaust fühlen müssen wie ihre Vorgänger in den Ruinen der verlorenen Industrieregion Shanxi. A Touch of Sin vollzieht diese Bewegung zwischen der zweiten und dritten Episode nach: Fortan bewegen sich die Charaktere in moderneren, anscheinend behaglicheren Milieus, deren trügerischen Charakter der Film nachdrücklich entlarvt.

Mit Still Life tritt eine weitere Veränderung im Erzählstil des Regisseurs auf den Plan. Er bleibt zwar seinem Mandat der Zeugenschaft treu, aber die Darstellung der Realität bricht auf. Einmal erhebt sich ein Monument und schwebt, einem UFO gleich, über der Landschaft, die bald vom Wasser des Drei-Schluchten-Staudamms überflutet werden wird. Dieser Moment der Irritation, dieses erzählerische Hinübergleiten in eine symbolgefügte Welt, findet ein Echo in der ersten Episode von A Touch of Sin, wo das Brüllen eines gemalten Tigers den Auftakt gibt zum Rachefeldzug eines gedemütigten Minenarbeiters.

Still Life, der in Venedig den »Goldenen  Löwen« gewann, ist eigentlich das Nebenprodukt eines dokumentarischen Projektes, Dong, über einen Maler, dessen Studien der Landschaft des Yangtse den Regisseur beeindruckt hatten. Schon Unknown Pleasures ging aus der Arbeit an einem kurzen Dokumentarfilm hervor. Dieses Schillern zwischen beiden Disziplinen zieht sich bereits durch Jia Zhang-kes Frühwerk. Am Ende von Xiao Wu wird der Taschendieb mit Handschellen an einen Laternenmast gekettet. Die Passanten starren nicht nur den so an den Pranger gestellten Protagonisten an, sondern auch das Filmteam.

In den Dokumentarfilmen wiederum, die der Regisseur nach 2006 dreht, setzt er Zeitzeugen wie Schauspieler in Szene. Dieser Zyklus begehrt auf gegen das Vergessen, das nicht nur die Individuen, sondern die ganze Nation ergriffen hat. Jia Zhang-ke erhebt Einspruch gegen die offizielle Geschichtsschreibung. Die Erinnerung ist ein leeres Blatt, das von der Propaganda überschrieben wurde. 24 City (2008) und I Wish I Knew (2010) handeln vom Verschwinden zweier Städte. Im ersten Fall ist es Chengdu, das durch die Schließung eines Rüstungsbetriebs ausgelöscht wird, im zweiten Film ist es das alte Shanghai. In I Wish I Knew setzt der Regisseur auch seinem verfemten Kollegen Fei Mu ein Denkmal, dessen Melodram Frühling in einer kleinen Stadt 1948 dem chinesischen Kino einen anderen Weg hätte weisen können als Propaganda und unverfängliche Unterhaltung.

Unbekannte Freuden

A Touch of Sin ist Jia Zhang-kes erster Spielfilm seit sieben Jahren. In dieser Zeit hat er drei Projekte über entscheidende Wegmarken der chinesischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verfolgt – sie sollen 1927, 1949 und während der Kulturrevolution spielen –, deren Realisierung er wegen der Kosten und des Widerstands der Zensur vorerst verschieben musste. Der neue Film weist jedoch Spuren eines weiteren, höchst verblüffenden Vorhabens auf. Der Regisseur plante, einen Kampfkunstfilm zu drehen, der Ende des 19. Jahrhunderts spielt. Der internationale Titel verweist auf diese Abkunft: Er erinnert an King Hus Meisterwerk A Touch of Zen.

Bei seiner Premiere in Cannes löste Jia Zhang-kes Film einige Irritationen aus. Sollte der unbestechliche Chronist der chinesischen Gegenwart nun, gleichsam dem verhassten Vorbild Zhang Yimous folgend, zum Mainstream übergewechselt sein? Das Genrekino impliziert ja Codes, Konventionen, vielleicht gar eine Manipulation des Zuschauers. Die Choreographie der Actionszenen weckt durchaus den Eindruck, ihr Regisseur wolle diese neue Disziplin beherrschen. Die Verwunderung über den neuen Weg unterschlägt jedoch, wie stark Jia Zhang-ke seit jeher auch vom Schauspiel fasziniert war, von Darstellungsformen, die von der Realität abstrahieren. Vor dem Aufkommen des Fernsehens waren Theater-, Oper- und Musikaufführungen die einzige Form der Unterhaltung in seiner Heimatprovinz. Keiner seiner Filme kommt ohne Szenen aus, in denen sie eine Rolle spielen.

Mithin ist A Touch of Sin zugleich Zwischenbilanz und Neuanfang. Die überraschende Wehrhaftigkeit seiner Charaktere steht nicht nur in der Tradition des Kampfkunstfilms, der bisweilen ja einleuchtend vom Aufbegehren gegen Unterdrückung erzählen kann. Die Akte der Gewalt, in denen sich der Zorn (nach christlichem Verständnis eine der Todsünden, ganz so falsch ist der englischsprachige Titel also nicht) der Charaktere entlädt, hat Jia Zhang-ke der Realität entnommen. Er wurde, wenn nicht durch die staatlichen Medien, so doch durch das chinesische Twitter, auf sie aufmerksam. Es sind verzweifelte Akte der Selbstbestimmung, die dem Zuschauer keine Genugtuung verschaffen sollen, die der Regisseur jedoch mit Empathie schildert. Schließlich hat er auch sein Leben lang für sein Recht gekämpft, Filme zu machen.    

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