Berlinale Retro – Zum Werk von King Vidor

»Die Parade des Todes« (1925)

»Die Parade des Todes« (1925)

Die Berlinale hat ihre Retro King ­Vidor gewidmet: einem der ganz großen ­Regisseure des klassischen Hollywood. Aber warum ist der Mann nicht so ­bekannt wie John Ford und Howard Hawks? Norbert Grob über ein schwer zu fassendes Werk

Er zählte nicht zu den Göttern im Olymp des US-Kinos. Er durchschritt nicht immer aufs Neue sein eigenes Universum – wie John Ford. Und er behandelte nicht immer wieder seine ureigensten Obsessionen und Vorlieben – wie Howard Hawks. Und doch muss man King Vidor als Auteur würdigen – mit einem besonderen Blick auf Mensch und Welt, mit einem engagierten Zugriff aufs Filmemachen. Er selbst verstand Regie als »Kanal, durch den ein Film die Leinwand erreicht« (nach Kevin Brownlow). Vidors Strategie dabei war, im Alltag seiner Figuren zu wühlen, mit viel Gefühl dafür, wie würdevoll sie ihren Niedergang akzeptieren – von Jim Apperson in »The Big Parade« (1925) und John Sims in »The Crowd« (1928) über »Stella Dallas« bis zu Lewt McCanles in »Duel in the Sun« (1947) und Fürst Andrej Bolkonski in »War and Peace« (1956).

Filmregie als »Kanal« zur Leinwand: Das setzt Vielfältigkeit voraus. Und stellt klar, dass da ein Künstler auf vielen Ebenen zu Hause ist. In vielen Geschichten. In vielen Formen, Perspektiven, Techniken. Auch in vielen Genres.

Melodramen

Vidor begann seine Karriere im Kino mit Komödien und Melos, die häufig handeln von den kleinen Kämpfen zwischen Männern und Frauen. Anfangs, so erzählte er, habe er »große Mühe« gehabt, »vom Kurzfilm wegzukommen«. Erst 1919 sei es ihm gelungen, mit 9000 Dollar »The turn in the Road« zu drehen, eine melodramatische Geschichte zwischen Vater und Sohn, nachdem der seine Frau bei der Geburt ihres Kindes verloren hatte. Nach einem eigenen Buch – wie es zu der Zeit selbstverständlich war. »Fürs Drehbuch gab es nie ein Budget, es verstand sich von selbst, dass man Drehbücher aus der Tasche zog« (nach H. H. Prinzler).

Das Melodramatische war und blieb ein Grundelement von Vidors Filmen – in dem Sinne, dass es darin um »Hingabe an heftige Gefühle«, um »moralische Polarisierung«, »extreme Situationen und Seinszustände«, »Belohnung der Tugend« und »atemberaubende Umschwünge« geht (Peter Brooks). Und Vidors Filme wimmeln nur so von heftigen Gefühlen, extremen Situationen, atemberaubenden Umschwüngen. Beispielsweise »Stella Dallas« (1937), in dem es um eine Frau geht, die anfangs davon träumt, ihre trostlosen Verhältnisse hinter sich zu lassen und die vornehme Gesellschaft zu erobern. Nach der Heirat mit einem Fabrikanten scheint ihr dies auch zu gelingen. Doch der Mann erwartet strikt kultiviertes Verhalten, was ihr nach und nach zuwider wird. So kehrt sie zurück zu ihrem freizügigen Leben: Sie geht tanzen, trägt »Modeschmuck und exzentrische Kleidung« und sucht »einen Lebensstil (zu) erreichen, der (…) ihrem eigenen Selbstverständnis entspricht«. Für Elisabeth Bronfen wird die von Barbara Stanwyck gespielte Stella dadurch zum »Inbegriff des amerikanischen Subjekts«, da sie »sich entlang ihrer individuellen Träume entwickelt«. Der erneute Umschwung kommt nach der Trennung, wenn sie all ihre Liebe auf die Tochter überträgt – und sie so erzieht, dass sie an ihrer Stelle aufsteigen kann in die Gesellschaft der Reichen. Bis zum Äußersten reizt Vidor hier den melodramatischen Gestus aus. Auch, indem er stets weitere Ebenen anspielt, die tiefer hineinführen in die Irrungen und Wirrungen der Gefühle. Letztlich geht es um einen Traum vom Paradies, der zum Alptraum wird und danach viele in falsches Glück stürzt.

Leben

Geboren wurde King Vidor am 8.2.1894 in Galveston, Texas. Er wuchs in begüterten Verhältnissen auf, sein Vater war ein reicher Holzhändler. 1914 heiratete er den späteren Stummfilm-Star Florence Arto. 1915 ging er mit ihr nach Hollywood, wo er bald als Kameramann arbeitete. 1916 war er Produktionsassistent bei D. W. Griffiths »Intolerance«. Ab 1918 realisierte er als Regisseur eine Reihe von two-reelers, ab 1919 abendfüllende Filme fürs Kino. 1922 nahm ihn Metro unter Vertrag, für die er bis 1924 neun Filme drehte, unter anderem »The Woman of Bronze« und »Three Wise Fools« (1923), der von einer jungen Frau erzählt, die in den luxuriösen Alltag dreier älterer Herren eindringt und vieles durcheinanderwirbelt, nicht nur deren Gefühle. Carl von Ossietzky notierte dazu in seinem Tagebuch: »Man muss King Vidor lassen, dass er auf knappen, pointierten Ablauf hält und auch das Rührselige nicht mehr dehnt, als sein Publikum nun einmal verlangt.«

1924 akzeptierte Vidor, nachdem unter der Leitung von Marcus Loew und Louis B. Mayern MGM gegründet wurde, einen langjährigen Vertrag, der ihm bis 1933 große Freiheiten bot. »Bei MGM hat es mir gefallen, denn die hatten prachtvolle Abteilungen, die (…) alles bauten und bewerkstelligten« (nach HHP). Ab 1933 arbeitete er überwiegend freischaffend. In den 1960er Jahren unterrichtete er Film an der UCLA. 1978 erhielt er für sein Lebenswerk einen Ehren-Oscar.

Soziodramen

Der Wechsel zum engagierten Künstler, der sich einmischt in die Gegebenheiten der Gesellschaft, begann 1925 mit »The Big Parade«, einer Klage über das Soldatenleben im Ersten Weltkrieg. Er setzte sich fort mit »The Crowd« (1928), einer nüchternen Chronik des Alltags eines kleinen Angestellten in New York. Und er fand zunächst ein Ende in »Hallelujah« (1929), in dem Vidor erstmals mit Ton arbeitete und damit sofort innovative Akzente setzte. Diese Filme kreisten darum, wie sehr Hoffnungen und Vorstellungen an Normen und Regeln zerbrechen – und sich gleichzeitig neu entzünden.

Es war ein Paukenschlag in Hollywood, als »The Big Parade« in die Kinos kam (und Vidor selbst zum Star wurde). Kein Film zuvor hatte so heiter die Zeit vor dem Krieg und so rigoros die Bitternis des Kriegsalltags betont. Zunächst die Vorstellung der drei Helden: Slim auf dem Bau, Bull in der Bar, Jim mit Nichtstun. Dann die Zeitung: »War declared!« Daraufhin die Parade der Rekruten durch die Stadt. Schließlich das erste Manöver, der erste Marsch in voller Ausrüstung, »lachend«, Ankunft im französischen Dorf Campillon, Ruhepunkt vor der Front, wo Freundschaften entstehen und Kameradschaft gepflegt wird. Vidor schuf musterhafte Genreszenen, die später häufig zitiert und variiert wurden: als gedehnte Ruhe vor dem Sturm. Danach folgen die Kämpfe gegen die Deutschen, oft mit acht Kameras aufgenommen: gegen Flugzeuge, gegen versteckte MG-Stellungen, gegen Gasangriffe. Slim und Bull werden getötet, Jim verliert das linke Bein. Danach »another Big Parade«: der lange Zug der Krankenwagen. Vidor entwarf so ein panoramatisches Schlachtgemälde: Mal ist alles zum Überblick erweitert, mal alles zu kurzen Momenten verengt. Ihm gelingen so »epische Großartigkeit und Einfachheit« zugleich. »Tendenz durch Tatsachen. Geistige Einwirkung durch Komposition«, schrieb Herbert Jhering. Soziodramatik durch den Wechsel von Frieden zu Krieg zu Frieden. Dazu Kritik durch Transparenz des Geschehens.

Das Soziodramatische ist als zweite Grundstimmung in Vidors Filmen zu sehen. Häufig wird der Konflikt im Zentrum durch den Stand der gesellschaftlichen Dinge grundiert. Reales dominiert das Illusionäre, Gegebenes das Mögliche. Jeder will den Erfolg für sich, stößt dann aber an Grenzen, die außerhalb seiner selbst liegen. In »The Crowd« stolpern zwei unter Millionen von einem Problem zum nächsten; anfangs noch hoffnungsfroh heiraten sie, bekommen zwei Kinder, aber dann stirbt die Tochter bei einem Unfall, die Wirtschaftskrise wuchert, der Mann verliert seinen Job. Erst sechs Jahre später, in »Our Daily Bread«, ist zu sehen, wie es weitergeht: wie sie die Stadt verlassen und auf dem Land ihren Frieden finden.

In »The Champ« (1931) droht sich ein Boxer zwischen Alkohol- und Wettsucht zu verlieren. Mal ist er oben, mal ist er unten. Am Ende gewinnt er zwar seinen letzten Kampf im Ring, stirbt kurz darauf aber an einem Herzinfarkt. Die negative Kraft sozialer Spannungen, sie ist das Thema bei Vidor. Hin und wieder inszeniert er sie sehr direkt, wie in »An American Romance« (1944), wo es um einen Handwerker geht, der später bis zum Industriellen aufsteigt, dadurch aber den Kontakt zu den Arbeitern verliert und so die Konflikte schürt, die jegliche Gemeinschaft sprengen. Häufiger jedoch wirken diese Konflikte eher im Hintergrund. Wie in »The Fountainhead« (1949), in dessen Zentrum ein besessener Architekt steht, der nur die »eigenen Standards« akzeptiert, da jedes Haus »eine eigene Integrität« besitze, »just like a man«. Als Bauherren eine Wohnanlage verändern, die er für einen Freund entworfen hat, empfindet er dies als Eingriff in seine künstlerische Freiheit und sprengt das Gebäude in die Luft. Er kämpft damit für die Würde seines Schaffens, »radikal bis zur Selbstzerstörung« (Ines Bayer). Seine Maxime ist: »The man who thinks must think and act on his own.« Nur durch rigorose Individualität bildet sich für ihn Schönes und Wahres.

Western

Nach seinem experimentellen »Hallelujah«, der an der Kasse ohne Erfolg blieb, orientierte sich Vidor neu. Er drehte für Irving Thalberg seinen ersten Western: »Billy the Kid« (1930). Dabei gab er dem Drama um einen Unschuldig-Schuldigen eine ungewöhnlich ambivalente Färbung, indem er Billy in seinem Krieg gegen die Mächtigen weniger als Outlaw denn als »Mann in der Revolte« charakterisiert. Billy beginnt zu kämpfen aus Sympathie für einen kleinen Rancher, und er lässt davon auch nicht ab, als er mit dem Gesetz in Konflikt gerät. Am Ende hat er selbst den Sheriff auf seiner Seite. Pat Garrett lässt Kid überleben und davonreiten, und er sorgt dafür, dass die Frau, die ihn liebt, ihm auf einem rassigen Pferd nachjagen kann – unterlegt mit krachenden Geräuschen.

Das Widersprüchliche (in der Zeichnung der Atmosphäre und der Figuren) bleibt Kennzeichen in Vidors Western – vom Wechsel des Banditen zum Polizisten in »The Texas Rangers« (1936) über die Konfrontation zwischen Wildnis und Zivilisation in »Duel in the Sun« (1946) bis zu dem Cowboy in »Man Without a Star« (1955), der nichts so schätzt wie freie Wege durchs Land und nichts so hasst wie Zäune ums Weidefeld. »The Texas Rangers« beginnt mit drei Kumpanen, die Postkutschen überfallen. Eines Tages aber misslingt ihnen ein Raub, weil die Kutsche von einem bewaffneten Ranger beschützt wird. Was ihr Leben verändert. Der eine lebt als Outlaw weiter, der andere geht als Law Man zu den Rangers. So bittet er seinen Kumpan darum, ihm nie wieder in die Quere zu kommen – ein Wort, ein langer Blick, ein kurzer Händedruck. Diese Übereinkunft zerbricht erst, als der Dritte zwischen ihnen zerrieben und getötet wird. Der Law Man muss einsehen, dass er sich auch aktiv einsetzen muss für die neu entstehende Ordnung. Vidor betont dabei (anders etwa als John Ford, bei dem das Handeln gegen Gesetzlose unausweichlich zum Akt der Zivilisation wird) die Gefahren dieses Tuns. Ihn interessieren auch die Narben, die der Kampf für die neue Ordnung hinterlässt, die Verbiegungen der alten Wünsche und Ideale.

Zwölf Jahre später, in »Duel in the Sun«, überhöhte Vidor die Gegensätze zwischen der Lust am ungestümen Tun und dem Streben nach zivilisatorischem Handeln: in der Rivalität zweier Brüder. Lewt ist ein erfahrener Cowboy, der die bockigsten Pferde bändigt, ansonsten aber tut, was er will. Jesse ist Rechtsanwalt, er denkt an die Befriedung und Legalisierung des wilden Umfelds. Als beide sich in dieselbe Frau verlieben, Pearl, kommt es zu Streit und Krieg. Vidor zeigt Verständnis für den Anwalt, auch wenn er ihn als kühl und steif charakterisiert. In seinem Cowboy aber feiert er das Bedürfnis nach dem Freien, Ungebundenen. Wobei Vidor dessen Wildheit als Kraftquelle versteht, die aus der Auseinandersetzung mit der »gefährlichen und feindseligen Umgebung« erwächst, »in der man nur überleben kann durch Kampf und Opfer« (J. Baxter). Höhepunkt von Vidors Melodramatik und Zuspitzung seiner Lust am Aufruhr der Gefühle dann bei der Auflösung des Konflikts: Nach dem Tod der Mutter bedroht Lewt seinen Bruder und lässt Pearl ausrichten, sie solle zu ihm in die Felsen kommen, wo er sich versteckt vor dem Gesetz. Sie reitet los, durch eine karge, sonnendurchflutete Einöde. Als sie ihn findet, greift sie sofort zum Gewehr – und schießt. Er schießt zurück. Sie triff ihn, er trifft sie. Augenblicke später ruft er mit gepresster Stimme: »Pearl, komm her zu mir. Ich liebe dich.« Und sie schleppt sich mühsam zu ihm, über Felsen und Sand, bis sie sich ein letztes Mal umarmen, küssen – und sterben. End badly und Happy End gleichermaßen.

Letztes

King Vidor in Hollywood: Das ist eine lange Karriere als Produzent und Regisseur – sein letzter Spielfilm war »Solomon and Sheba« von 1959, 1982 ist er gestorben –, doch mit einem eher überschaubaren Œuvre. Gerade mal 54 Filme, davon 28 mit Ton. Einige Arbeiten, von den Zeitgenossen hochgelobt, wirken nun eher veraltet, andere, die verschmäht wurden, sind eher zu würdigen. Wie »War and Peace« nach Leo Tolstoi (1956), Vidors vorletzter Film, der hier als sein kinematographisches Fazit genommen sei. Vieles ist noch einmal da, das sein Werk auszeichnet. Melodramatische Zuspitzungen. Der kritische Blick auf die Gesellschaft. Der Kampf um Würde. Dazu: große Stars – Henry Fonda, Mel Ferrer und Audrey Hepburn, die wie eine Wiederkehr der jugendlich-natürlichen Natascha Rostowa wirkt. Aufregende Bilder von Begegnungen, Festen, Intrigen, Paraden, Schlachten, fotografiert von Jack Cardiff. Und ein musikalischer Rhythmus (von Leo Cattozzo geschnitten), der für Vidor seit je »das Wichtigste« war. Ihm blieb »der Cutter« bis zum Ende »der Arbeit des Regisseurs enger verbunden als irgendjemand sonst, (…) was das Gefühl für den gesamten Film und die einzelnen Sequenzen betrifft« (nach HHP). Für Vidor war es der Rhythmus seiner Filme, der zwischen den Bildern für eine ganz eigene Atmosphäre sorgt.

Letztlich war King Vidor ein Menschenkenner, der konstatiert und klagt. Aber auch ein stetig Suchender. Und ein Meister filmischer Variabilität.

*** Literatur *** 

John Baxter: King Vidor. New York 1976.
Ines Bayer: THE FOUNTAINHEAD. Elisabeth Bronfen: STELLA DALLAS. In E.Bronfen u.a.: Classical Hollywood. Stuttgart 2013.
Kevin Brownlow: Pioniere des Films. Basel/Frankfurt am Main 1997.
Herbert Jhering in: Berliner Börsen-Courier 22.10.1927.
Carl von Ossietzky: Tagebuch. Eintrag vom 10.11.1924.
Hans Helmut Prinzler: Directed by King Vidor. In: Filme, Berlin, 10/1981.

Der Katalog zur Retro, hg. von Karin Herbst-Meßlinger und Rainer Rother, erscheint bei Bertz + Fischer. Ca. 250 S., 29 €.

Meinung zum Thema

Kommentare

STELLA DALLAS unterrichtete Joanie Myroux Film an der UCLA. 1978 erhielt er für sein Lebenswerk einen Ehren-Oscar.

"Billy the Kid" war nicht der erste Western des Regisseurs, denn er hatte bereits 1921 für FIRST NATIONAL das Kanada-Abenteuer "The Sky Pilot" gedreht. Trotz des leicht irritierenden Titels zählt das Kanada-Abenteuer zum Genre.

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