Retrospektive: »Street Scene« (1931)

»Street Scene« (1931). Quelle: Österreichisches Filmmuseum

»Street Scene« basiert auf einem erfolgreichen Theaterstück – was man dem Film allenfalls am einheitlichen Schauplatz ansehen könnte. Was passiert, geschieht rund um den Eingangsbereich eines New Yorker Mietshauses – doch wie es passiert, das hat Vidor meisterlich in Film gegossen. Wie beweglich die Kamera ist, wie sie entlanggleitet, hoch- und runterfährt, wie sie (und der Filmschnitt) Tempo aufnehmen oder herausnehmen kann: Meisterlich verdichtet Vidor in 80 Minuten das Leben und das Milieu eines einfachen Mietshauses, in dem vornehmlich noch frische Immigranten leben. Man sieht sich, unterhält sich, tratscht, diskutiert, scherzt, beobachtet, kommentiert… Das ganz normale Leben halt. 

Der Italiener streitet mit dem Schweden, wer denn nun tatsächlich Amerika entdeckt hat. Die Nationalitäten der großen Komponisten werden durchdekliniert. Ein russisch-jüdischer Kommunist fordert die Revolution – und wird vom Film nicht verächtlich gemacht. Jeder und jede haben ihren Platz hier, so dass »Street Scene« ein wundervolles Porträt des Melting-Pot-Mythos ist.

Aber natürlich noch viel mehr. Vidor, das merkt man an dem Film, ist interessiert an dem, was um ihn vorgeht. Er schaut hin, hört zu – und er kann die Gesellschaft, die er erlebt, in eine spannenden Ensemblegeschichte einbetten. Erst langsam schält sich eine Hauptfigur heraus, Rose, sie wird abends von ihrem Chef im Auto heimgebracht, der ihr sexuelle Avancen macht, sie als Zweitfrau aushalten möchte, ein Leben im Showbusiness anbietet… Doch Rose ist realitätsverhaftet, sie weiß, dass sie derzeit niemanden liebt und ahnt, dass das Leben noch anderes bereit hält, und sie ist optimistisch genug, sich an den kleinen Dingen des Lebens zu erfreuen. Ein Nachbar verehrt sie, ein Bücherwurm, der vom halbstarken Rowdy gerne mal bedrängt wird. Die Mutter von Rose, das ist ein offenes Geheimnis, hat ein Verhältnis mit dem Milchmann – und auch das macht der Film nicht verächtlich, er verhandelt das Dasein auch in Fragen von Moral und Unmoral: Ihr Ehemann ist grob und roh, sie sehnt sich nach mehr im Leben – aber andererseits: Geht man so mit einer Ehe um? Ergebnis der Diskussion offen – bis das Schicksal zuschlägt…

Vidor hat für den Film einen ganzen Straßenzug bauen lassen, inklusive Hochbahn, und er nutzt dieses Set für große Momente. Wie die Menschen zusammenlaufen, als etwas passiert, perfekt orchestrierte Masse als chaotischer Aufruhr, dann verläuft sich die Menge wieder… Und wie er die kleinen, oft auch komischen Vignetten einsetzt, um das große Panorama im Kleinen darzustellen, ohne zu vergessen, die vielen kleinen Handlungen so auszugleichen, dass dem Zuschauer nicht das eine über wird und etwas anderes fehlt. Die Dynamik des Lebens – ein Kind wird geboren, Menschen sterben – wird aufgefangen in der Dynamik der Kamera, so dass auf geheimnisvolle Weise der Film, der so viele unterschiedliche Charaktere mit unterschiedlichen Ansichten und unterschiedlichen Konflikten zeigt, eine perfekte Harmonie aufweist.

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