Kritik zu Karla
Inspiriert von einem wahren Fall skizziert Christina Tournatzés einen aufrührenden Gerichtsprozess, bei dem ein junges Mädchen ihren eigenen Vater wegen Missbrauch anklagt
Bayern 1962: eine Welt von grüß Gott, VW Käfer, allgegenwärtigem Zigarettenrauch und Schlagern wie »Diana« von Conny Froboess. Dessen erste Zeilen »Wie ein Märchen fing es an, das die Zauberfee ersann« verkehrt Christina Tournatzes' Film »Karla« in ihr Gegenteil. Die zwölfjährige Karla (Elise Krieps) erscheint zu später Stunde allein in einem Polizeirevier und will Anzeige erstatten. Grundlage ihrer Initiative ist § 176 Strafgesetzbuch – sexueller Missbrauch von Kindern. Karla nennt die juristische Chiffre, aber liefert keine weiteren Informationen. Ihren Appell »Bitte, Sie müssen mir helfen« unterlegt sie mit der Forderung, ihren Fall einem Richter vorzutragen.
Tournatzes und ihre Drehbuchautorin Yvonne Görlach, die beide beim Filmfest München für ihre Arbeit ausgezeichnet wurden, haben sich von einem wahren Fall inspirieren lassen. Maximilian Streichert (Ausstattung) rekonstruiert die Vergangenheit anno 1962 in diversen Brauntönen. Düstere Farben dominieren in dem von Nonnen geführten Kinderheim, in dem Karla untergebracht wird. Ihr Zimmer sieht aus wie eine Zelle: Karla ist Gefangene ihrer Situation.
Der Film nähert sich seinem Thema mit großer Sensibilität und äußerst kunstvoll. Die Gespräche mit dem Richter Lamy (Rainer Bock) spiegeln das Dilemma des jungen Mädchens. Karla spart die Details ihrer Erfahrungen aus, denn fände sie Worte, um die Erfahrungen mit dem übergriffigen Vater zu schildern, wäre das so, als würde sie den Missbrauch erneut erfahren. Lamys zunächst knurrige Zurückhaltung verwandelt sich schnell in warmherzige Zuwendung. Er benennt das Problem eines Gerichtsverfahrens (»Aussage gegen Aussage«), geht aber bis an berufsethische Grenzen, um die Glaubwürdigkeit und Würde des Kindes zu verteidigen.
Dinge auszusparen gehört auch zur Filmsprache, die ganz auf genretypische Schockeffekte verzichtet. In Rückblicken wird nicht plakativ Missbrauch ausgestellt. Florian Emmerichs Kamera zeigt Bruchstücke einer Leidensbiografie. Eine summende Fliege, der schemenhaft wahrzunehmende Vater, Fluchtszenen und Bilder vom Ertrinken spiegeln eindringlich erlittene Verletzungen. Eine Stimmgabel übernimmt eine unterstützende Rolle, und ein Feld von Mohnblumen eröffnet poetisch eine hoffnungsvolle Perspektive.
Ein fabelhaftes Ensemble trägt den Film. Torben Liebrecht verkörpert den furchteinflößend wendigen Vater, Katharina Schüttler die im Verdrängungsmodus gefangene Mutter. Rainer Bock, flankiert von Imogen Kogge als resolute rechte Hand des Richters, profiliert sich als nimmermüdes Instrument der Gerechtigkeit. Er personifiziert eine im Film zitierte Gedichtzeile der Autorin Mascha Kaléko: »Es braucht nur eine Insel allein im weiten Meer.«
Elise Krieps (Jahrgang 2010) schließlich ist in ihrer ersten großen Rolle nicht weniger als sensationell. Ihre Karla erscheint auf dem qualvollen Weg zur Wahrheit aufgeweckt, widerständig und juristisch versiert, dann wieder verschlossen und wortlos verzweifelt angesichts der Wucht, mit der im Gericht ihre Glaubwürdigkeit attackiert wird.
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