Kritik zu Wenn der Herbst naht
François Ozon entwirft in seinem ebenso cleveren wie melancholischen Familiendrama ein moralisches Dilemma und gibt der 81-jährigen Hauptdarstellerin Hélène Vincent als liebender Großmutter die Rolle ihres Lebens
Zwei alte Freundinnen gehen im bunten Herbstwald auf Pilzsuche. Mit diesem beschaulichen Spaziergang nimmt ein Familiendrama seinen Anfang, das nahezu unmerklich sein Gift abgibt. Michelle kocht mit den Steinpilzen ein Essen für ihre Tochter Valérie, die mit ihrem kleinen Sohn Lucas aus Paris zu Besuch kommt. Aber Valérie landet im Krankenhaus, wo ihr der Magen ausgepumpt wird. Sie behauptet, dass Michelle sie umbringen wolle, und verbietet ihr den Umgang mit Lucas. Die alte Dame, untröstlich über den Verlust ihres Enkels, fragt sich verzweifelt, wie diese Pilzvergiftung passieren konnte. Ist sie etwa dement? Michelles Freundin Marie-Claude und deren Sohn Vincent, kürzlich aus dem Gefängnis entlassen, wollen Michelle trösten. Und nun?
Kein französischer Regisseur ist so produktiv wie das einstige Wunderkind François Ozon, das seit 1998 fast jährlich einen Film dreht. Sein 23. Werk wirkt wie eine Fingerübung, in der er jene Stilmittel durchdekliniert, die seine Filme so anziehend irritierend machen. Die Handlung wird getaktet durch eine Ellipse, eine ausgesparte Schlüsselszene, deren Verlauf sich der Zuschauer aufgrund von Halbsätzen und sprechenden Schweigens zusammenreimen muss. Mit gewohnter Leichtfüßigkeit wandelt Ozon zwischen den Genres und täuscht einen Thriller an. Doch der Krimiplot implodiert, weil bei der Ermittlung des Whodunit Polizisten angesichts der Omertà aller Beteiligten kapitulieren. Und wenn sich das Verdrängte und Nichtgesagte in Geistererscheinungen manifestiert, ist auch eine Portion Mystery im Angebot.
Angesiedelt in einem idyllischen Dorf, in dem Michelle, eifrige Kirchgängerin mit Häuschen und Garten, kocht, backt, Liebe und Geld verteilt, hat die Geschichte zugleich Züge eines Märchens, möglicherweise mit Hexe. Auch hier laufen alle Fährten auf die Bildung einer typisch Ozon'schen Wahlfamilie, ohne leibliche Väter, mit starken Frauen und unterschwelliger Homoerotik, zu.
Michelle und ihre Freundin sind ehemalige Prostituierte, voller Schuldgefühle darüber, dass sie es mit ihren Kindern »verbockt« haben, und hegen ihre kleine heile Welt: komplexe Frauencharaktere voll sanfter Resilienz, herausragend gespielt von Hélène Vincent und Josiane Balasko. Die anderen Figuren sind papierdünn. Besonders Valérie (Ludivine Sagnier) als Tochter, die ihr Leben nicht in den Griff bekommt und sich als Opfer ihrer Mutter geriert, ist so überzeichnet biestig, dass das auf der Psychologie der Mutter-Tochter-Beziehung basierende Handlungskonstrukt ins Wanken gerät.
Die fröhliche Amoral, die Ozons Filme oft auszeichnet, erzeugt diesmal ein anderes Unbehagen als von ihm wohl beabsichtigt. Wo der Regisseur mit seiner illusionslosen Weltsicht in der Tradition von Chabrol und Simenon steht, wirkt dieser Film trotz inszenatorischer Finesse wie Blendwerk. Weniger als die Summe seiner Teile, erzeugt dieses Drama über ein moralisches Dilemma dennoch so viel Gänsehaut, dass es lange nachhallt.
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