Kritik zu Memoiren einer Schnecke

© Capelight Pictures

2024
Original-Titel: 
Memoir of a Snail
Filmstart in Deutschland: 
24.07.2025
L: 
95 Min
FSK: 
12

Mit Akribie, Einfallsreichtum und skurrilen Figuren erzählt dieser »Claymationfilm« die berührende Lebensgeschichte eines australischen Zwillingspaars für ein erwachsenes Publikum

Bewertung: 5
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Swingende Adoptiveltern (die Musikrichtung ist hier nicht gemeint), Nudistencamps, Schimpfworte, religiöser Fanatismus, Fetische, Alkoholismus, Kleptomanie und fickende Meerschweinchen – Adam Elliots neuer Animationsfilm »Memoiren einer Schnecke« ist wirklich nichts für Kinder – oder allzu zartbesaitete Erwachsene. Was aufgeschrieben nach purer Provokation klingt, entfaltet sich auf der Leinwand zu der wunderbar aufrichtigen, von vielen Schicksalsschlägen geprägten Geschichte der Zwillinge Grace und Gilbert.

Nachdem die Mutter im Kindbett stirbt, gibt der Vater von Grace und Gilbert sein Bestes. Trotz Armut und Alkoholabhängigkeit versucht er, ihnen ein sorgloses Leben zu ermöglichen. Als auch er stirbt, werden die beiden Geschwister getrennt. Grace wird in Canberra bei einem herzensguten Ehepaar untergebracht, mit dem sie jedoch nie ganz warm wird. Gilbert landet bei einer fundamental christlichen Farmersfamilie, in der er hart arbeiten und ständig beten muss. Über die Jahre schreiben sich die beiden Briefe und sehnen ein Wiedersehen herbei. Grace füllt die Leere, die der Bruder hinterlassen hat, mit dem erratischen Sammeln von Schnecken in jeder Form. Bis sie Pinky kennenlernt, eine exzentrische ältere Frau, die sie unter ihre Fittiche nimmt und deren beste Freundin sie wird. Gilbert versucht währenddessen, sich gegen das rigide Regime seiner Adoptivfamilie zu wehren. Die Geschwister werden erwachsen, aber keinem der beiden gelingt der Ausbruch aus dem Alltagstrott, bis es fast zu spät ist. All das erzählt Grace ihrer Lieblingsschnecke Sylvia (benannt nach Sylvia Plath und nur eine von vielen literarischen Anspielungen), als sie diese nach Pinkys Tod in deren Gemüsegarten freilässt. Am Tiefpunkt angekommen, nimmt ihr Leben abermals eine neue Wendung. 

»Claymation«, eine Wortschöpfung aus dem englischen »clay« (Lehm) und Animation, sind wie alle Stop-Motion-Werke eine Sisyphus-Arbeit: Für eine Sekunde fertigen Film sind zwölf Veränderungen an den Modellen nötig, von deren Herstellung und der sorgfältig gestalteten Mise en Scène ganz zu schweigen. Wie sehr sich diese Mühe ausgezahlt hat, offenbaren schon die opening credits, die mit simulierten Fahrten und Schwenks Graces messiehaft vollgestopfte Wohnung abtasten. 

Auch im weiteren Verlauf der Handlung entfalten sich die Figuren so skurril, wie sie schon in Elliots oscarprämiertem Kurzfilm »Harvie Krumpet« (2003) oder dem Langfilmdebüt »Mary & Max« (2010) waren. Sie sind von Neurosen geplagt, haben psychische Krankheiten, leiden an ihrem Aussehen, am Charakter und der ihnen alles andere als warmherzig begegnenden Welt. Sie sind weder attraktiv noch erfolgreich oder intellektuell. Aber genau diese Schwächen und Verschrobenheiten machen die Figuren so universal und menschlich. Ihre Biografien handeln vom Scheitern, vom Hinfallen und mühsamen Aufstehen. Sie erheben sich nicht wie ein Phönix, sondern krabbeln immer wieder aus der Asche ihrer Existenz hervor. 

Der Film bringt uns diese Eigenheiten charmant und einfallsreich näher. Da ist etwa die Liebesgeschichte von Grace und Gilberts Eltern, die sich in Paris kennenlernen, wo er als Straßenkünstler sein Geld verdient. Oder da sind Graces Adoptiveltern, ein unfassbar fröhliches Paar, das sich auf Swingerpartys vergnügt und schließlich in ein Nudistencamp auswandert. Ob traumatische Kindheit, Mobbing in der Jugend, toxische Beziehungen, Alter, Armut und Tod – Elliot spitzt all diese Themen ein bisschen zu, aber im Grunde kann sich jede und jeder mit den Problemen, die Grace und Gilbert über die Jahre beuteln, identifizieren. Und es ist beruhigend zu sehen, dass nicht der unerwartete Erfolg in Liebe oder Karriere, sondern die kleinen, auf den ersten Blick unbedeutenden Dinge und überraschenden Begegnungen unterm Strich ein gelungenes Leben ausmachen.

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