Interview: Ira Sachs über »Passages«

Als Regisseur schaffe ich Freiräume für kleine Wunder
Ira Sachs

Ira Sachs wurde 1965 in Memphis, Tennessee, geboren. Mit seinen ersten Spielfilmen »Delta« (1997) und »Forty Shades of Blue« (2005) konnte er sich auf dem Filmfestival von Sundance einen Namen machen. Das Suchtdrama »Keep the Lights On« (2012) war schließlich sein Durchbruch. In Filmen wie »Love is Strange« (2014), »Little Men« (2016) und »Frankie« (2019) erzählt er Geschichten um Familien und Beziehungen aus sehr persönlicher Sicht.

Wie ist die Idee zu »Passages« entstanden?

Ira Sachs: Ganz ehrlich, es hat vor allem damit zu tun, dass ich Franz Rogowski in Michael Hanekes »Happy End« gesehen hatte. Und ich fand ihn darin so faszinierend und aufregend, dass ich diesen Eindruck in einem Spielfilm festhalten wollte. Film beginnt für mich immer mit der Vorstellung, Lust zu bereiten. Wie entsteht diese Lust, dieses Vergnügen? Durch Zärtlichkeit und Intimität, durch Farben und Schönheit, durch Voyeurismus und Exhibitionismus, durch Haut und Körper und Sex.

Wie haben Sie das dann Franz Rogowski schmackhaft gemacht?

Franz war erst mal nur die Inspiration für das Drehbuch, ob er dann den Film macht oder nicht. Mich hat zunächst das Konzept einer romantischen Dreiecksgeschichte als Szenario interessiert. Sie zieht ihren Reiz aus der Obsession, die Menschen entwickeln, wenn sie etwas begehren, das sie nicht besitzen. Das ist für mich die Natur von Kino, der Treibstoff der Geschichte. Erst danach ging es darum, langsam herauszufinden, wer diese Menschen sein könnten, was für sie auf dem Spiel steht, und im Kern, wie man die Spannung hält. Wie lassen sich Variablen so verändern, dass das Publikum nie sicher sein kann, wer am Ende gewinnt.

Im Mittelpunkt steht dabei der Filmemacher Tomas. War diese Selbstreferenz wichtig?

»Passages« ist nicht im strengen Sinne autobiografisch, aber es ist ein sehr persönlicher Film. Ich fühle mich viel freier, wenn ich von Dingen erzähle, die mir vertraut sind, dann sind meine Ressourcen unendlich. Und mich interessiert, wie Männer in Macht­positionen mit dieser Macht umgehen und wie sie Dinge begehren, die sich ihrer Kon­trolle entziehen. Der Film beginnt mit einem Mann auf einem Sockel und endet mit einem Mann am Boden. Ich stoße ihn von diesem Podest, und zugleich ist es der Versuch, ihn dadurch besser zu verstehen.

Tomas ist ein komplexer, widersprüchlicher Protagonist, der sehr fragwürdige Dinge tut. Zugleich hat er eine große Anziehungskraft, auf die Menschen um ihn herum wie auf das Publikum. Müssen Sie ihn auch mögen?

Oh, ich liebe ihn. Die Filmgeschichte ist doch voller sympathischer Charaktere, die schreckliche Dinge tun. Die Frage nach Nettigkeit erschien mir noch nie interessant. Franz war da besorgter, und ich musste ihn überzeugen, mir zu vertrauen. Wir haben Szenen gedreht, in denen er schlimmere Dinge getan und gesagt hat, als im Film zu sehen sind. Sie sind auf dem Boden des Schneideraums gelandet, erst dort habe ich die richtige Balance gefunden. Ich wollte, dass Tomas leidenschaftlich ist, aber kein Scheusal. Es geht nicht darum, ob eine Figur attraktiv oder abstoßend ist, sondern da­rum, ob sie menschlich ist. Ich würde es sogar umdrehen: Wenn eine Figur nicht wie ein Mensch wirkt, finde ich sie abstoßend, weil sie uninteressant ist. Und ich glaube, dass mein Film und Franz mit seinem Spiel eine sehr menschliche Figur geschaffen haben. 

Apropos Balance. Franz bewegt sich zwischen zwei Menschen, seinem Mann Martin und Agathe, in die er sich verliebt hat. Die Beziehungen der drei verändern sich immer wieder, es fühlt sich sehr organisch an, zugleich weiß man nie, wohin es sich entwickeln wird.

Weil mein Co-Autor Mauricio Zacharias und ich gemeinsam ein Szenario konstruiert haben, das immer wieder unerwartete Wendungen nimmt, jede Szene hat eine Fallhöhe, und die Kräfteverhältnisse verschieben sich Moment für Moment. Es funktioniert wie ein Actionfilm. 

Wie meinen Sie das?

Es geht um das Aufeinandertreffen von Körpern und wie sie aufeinander reagieren, wie sie sich verändern, wenn sie sich begegnen. Das ist reine Action. Deswegen gibt es auch keinen Raum für irgendeine Art von Rechtfertigung, es ist vor allem eine Serie von Ereignissen, die diese Figuren durchleben. Ein Aufprall nach dem anderen. Ein bisschen wie Autoscooter. Aber sehr choreographiert.

Die Begegnungen wirken dabei sehr intim, nicht nur in den Sexszenen, sondern wie sie miteinander reden, die Blicke und kleinste Gesten. Wie haben Sie mit Franz, Adèle und Ben gearbeitet?

Es benötigt sehr viel Vorbereitung, um eine solche Atmosphäre der Möglichkeiten zu schaffen. Meine Aufgabe als Regisseur ist, in jeder Szene den Freiraum zu kreieren, dass ein kleines Wunder geschehen kann. Meine Strategie ist es, eine Welt zu kreieren, die lebendig und authentisch ist, mit Figuren, die ich perfekt besetzt habe. Ich probe nicht vorab mit den Darstellern. Sie spielen jeden Dialog zum ersten Mal gleich mit Kamera. Dadurch gibt es in jeder Szene ein Element des Entdeckens, auch des Risikos. Nur so erreiche ich, wonach ich suche, diesen Moment, der sich nicht wiederholen lässt, ein Blitzen in den Augen, eine unbewusste Geste. 

Das heißt dann auch, dass Sie nicht viele Takes drehen? 

Der Dreh ist durchaus ein Prozess des Ausprobierens und Verwerfens. Aber ich rede mit den Schauspielern nicht über Subtexte. Ich vermeide Konversationen über Dinge, die sie dann versuchen darzustellen. Mein Vorbild ist Robert Bresson, als er »Zum Beispiel Balthasar« drehte. Dieser Esel ist der tollste Schauspieler der Welt. Mit ihm redet niemand über Subtext. Dasselbe gilt für Kinder. Wenn ich eine Szene mit Kindern drehe, spreche ich mit ihnen über nichts anderes als das, was in diesem Moment passiert.

Ist »Passages« auch eine Hommage an eine bestimmte Form oder Ära des französischen Kinos?

Wenn ich einen persönlichen Film mache, fließen meine Lebenserfahrung und meine Kinoerfahrungen unwillkürlich mit ein. Sie sind Teil von mir, als Künstler und als Mensch. Ich sehe bestimmte Filmemacher als meine Eltern, andere als entferntere Verwandte. Und all ihre Filme sind Teil meiner Erinnerungen. Ich habe sie beim Drehen dieses Films bewusst integriert. Ich mag das Verspielte am französischen Kino, es erlaubt mir eine Leichtigkeit und zugleich, ernsthaft zu bleiben.

Sie haben bisher in den USA gedreht. Hat sich durch die Arbeit in Frankreich Ihre Perspektive verändert?

Hier habe ich auf jeden Fall mehr Möglichkeiten. Im Moment kann ich meine Art persönlicher Filme in Europa besser verwirklichen als in den Vereinigten Staaten. Und ich habe den Eindruck, dass mit »Passages« mein Handwerk zu meinen Instinkten aufgeschlossen hat. Es ist natürlich noch immer ein unperfekter Film, aber ich konnte viel von dem umsetzen, was ich vorhatte, weil ich auf eine Art gereift bin und meine Fertigkeiten verbessert habe. Ich fühle mich dadurch bestärkt. Das ist der eine Vorteil des Älterwerdens: Ich habe 30 Jahre Erfahrungen darin gesammelt, wie ich erreiche, was ich mir vornehme.

Warum nennen Sie Ihren Film »unperfekt«?

Ich strebe nach einem Ideal, das letztlich unerreichbar ist. Ich sehe im Film bisweilen die Mechanismen und wünschte, sie würden verschwinden. Ich bin im ständigen Konflikt mit meinen cineastischen Vorbildern, die immer besser sein werden als ich. Damit muss ich leben.

Inwieweit hat sich die Situation von Filmemachern verändert seit Ihren Anfängen in den 1990er Jahren?

Das Kino, mit dem ich aufgewachsen bin, ist im Verschwinden begriffen. In den USA drehen Leute ein, zwei Filme, die eigenwillig und unabhängig sind, und dann sind sie gezwungen, eine Richtung einzuschlagen, die von der Filmindustrie und kapitalistischen Strukturen vorgegeben ist. Als schwuler Mann kämpfe ich darüber hinaus ständig um Sichtbarkeit und Repräsentation in einem sehr homogenen Umfeld. Wenn man sich die letzten 25 Jahre schwuler Filmemacher ansieht und der Projekte, die sie verwirklichen, wird deutlich, dass sich die meisten von den Themen entfernen, die unmittelbar persönlich sind, weil sie nur so in dieser Branche überleben.

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