Nachruf: Alain Tanner

6.12.1929 – 11.9.2022
Alain Tanner

Alain Tanner

Sympathie für den Aussteiger
 

Für eine bestimmte Generation reicht die Nennung eines Films, um Alain Tanner ins Gedächtnis zu rufen: »Jonas, der im Jahr 2000 25 Jahre alt sein wird«. Wer den Geist der Siebziger sucht, findet ihn hier eingefangen als den einer Epoche, in der die größeren und kleineren Revolten fürs Erste vorbei waren und man sich neu sammeln musste.

Seine Sympathie für Aufbruch und Außenseiter zeigte er bereits mit seinem ersten Spielfilm, »Charles – tot oder lebendig« von 1969, mit dem er sogleich den Goldenen Leoparden in Locarno gewann. Es geht darin um die Figur des Aussteigers, wie er als Idee die Epoche beherrschen sollte. Bei Tanner ist es ein vermögender Industrieller, der eines Tages Villa, Frau und Familienbetrieb verlässt und nach einer kleinen Odyssee von einem jüngeren, »fortschrittlichen« Paar als Mitbewohner auf dem Land aufgenommen wird. Er entdeckt seinen Lebenswillen neu, wird aber am Ende auf Betreiben des eigenen Sohns für unzurechnungsfähig erklärt. Der Film ist keine Aussteigerhymne wie sein zeitgenössisches Pendant »Easy Rider«.  Er überrascht den heutigen Zuschauer damit, wie spröde und verschlossen die Hauptfigur agiert – und wie authentisch sie gerade deshalb wirkt.

In ganz ähnlicher Weise ist auch die Hauptfigur seines zweiten Films, »Der Salamander« (1971), absolut modern, ohne modisch zu sein. Bulle Ogier verkörpert die Titelfigur, eine junge Frau, die von Job zu Job driftet, schlecht behandelt wird, die sich aber zu wehren beginnt: durch Undurchsichtig- keit und Unberechenbarkeit ihrer Handlungen. Es gibt zwei Männer, die die Wahrheit über sie herausfinden wollen, einen Journalisten und einen Schriftsteller. Der eine versucht es durch Recherche, der andere durch Fantasie. Der Film wurde zum Phänomen. An traditionellen Verleihstrukturen vorbei zog er Zuschauerzahlen, die schließlich die Millionengrenze erreichten. »Der Salamander« traf den Nerv der Zeit, wobei das Schönste war, dass die Rebellin im Zentrum selbst dafür keine fertige Formulierung hatte, nur eine Haltung.

Eine kleine Geschichte, anhand derer man die große erklären könne – auf diesen Nenner hat Tanner selbst »Der Salamander« immer wieder gebracht. Um hinzuzufügen, dass das heute vielleicht nicht mehr möglich sei. Bis ins hohe Alter eine massige Gestalt mit volltönender Charakterstimme, konstatierte Tanner diese Veränderungen ohne Nostalgie oder Selbstmitleid, sondern mit der Verve des scharfen Beobachters, der die Gegenwart immer im Blick hat.

Als Zuschauer kann man es ihm gleichtun und ganz unsentimental feststellen, dass die Zeit unterschiedlich auch mit seinen Filmen verfährt: »Wo Jonas . . .«, Tanners größter kommerzieller Erfolg von 1976, mit seinen Politgesprächen am Küchentisch und der Supermarktkassiererin, die den Armen weniger berechnet, heute als Thesenfilm zerfällt, kann ein Werk wie »In der weißen Stadt« von 1983 geradezu Sehnsüchte auslösen: Da läuft Bruno Ganz als Seemann durch Lissabon; nicht alles musste etwas bedeuten. Darin zeigte sich die wahre Freiheit des Filme­machens.

Geboren 1929 in Genf, hatte es Tanner nach einem Wirtschaftsstudium und einem Job in der Handelsmarine ans Londoner Filminstitut verschlagen. Anfang der 60er Jahre kehrte er in die Schweiz zurück, um fürs TV-Dokumentationen zu drehen. »68« brachte ihn dazu, zum Spielfilm zu wechseln. Davon, wie zwingend dieser Schritt damals schien, konnte er sehr fesselnd berichten: welche Dimensionen des Politischen sich damals in der Kinofiktion auftaten, vorausgesetzt, man machte sich frei von Hollywood und den klassischen Erzählzwängen.

Obwohl Tanner weiter Filme machte (den letzten, »Paul s’en va«, 2004), befragte man ihn oft nur noch nach »Der Salamander« und ­»Jonas«. Aber, um ein Lieblingszitat jener Zeit anzuführen, die Tanner in seinen Filmen so prägnant auf den Punkt gebracht hat: Man muss diesen Mann und sein Werk differenziert sehen.

Meinung zum Thema

Kommentare

Wie um alles in der Welt konnte im Nachruf der Film "Messidor" unerwähnt bleiben?

Irgendwie eine Schande, dass die wenigsten überregionalen Zeitungen keinen Nachruf auf Alain Tanner gemacht haben, einen der ihtigsten Regisseure nicht für die Schweit in den 70er Jahren. Fast peinlich, dass nur wenige Filme auf DVD verfügbar bzw.mittlerweile vergriffen sind, da besteht noch Nachholbedarf. Und wieso "WO JONAS" im epd-Nachruf? Der korrekte Titel heißt "Jonas, der im Jahr 2000 25 Jahre alt sein wird". Danke Vorredner, MESSIDOR fehlt im Nachruf, unbedingt gehört auch DIE MITTE DER WELT dazu.

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