Berlinale Wettbewerb: Jenseits der Idylle

»Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush« (2020). © Luna Zscharnt

»Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush« (2020). © Luna Zscharnt

Es war ein Ausnahmejahr. Aber der Wettbewerb der 72. Berliner Filmfestspiele hat sich künstlerisch wacker geschlagen. Mit »Alcarràs« gewann ein spanischer Film über eine Familie in Bedrängnis 
 

Nein, so eine richtige Festivalstimmung wollte dann doch nicht aufkommen am Potsdamer Platz. Das lag nicht nur an den aufgrund der Corona-Sicherheitsbestimmungen höchstens halb vollen Kinosäle oder an der deutlich reduzierten Menge an Fachbesuchern und Journalisten. Alles war reduziert, selbst das Entrée in den Berlinale-Palast auf dem roten Teppich musste mit einer deutlich geringeren Menge an Schaulustigen und Fans auskommen. Die diesjährigen Filmfestspiele werden so sicherlich als ein Ausnahmejahr in die Geschichte des Festivals eingehen. Vielleicht resultierte die etwas andere Befindlichkeit ja auch aus dem Genius Loci. 2000 ist die Berlinale an den Potsdamer Platz umgezogen, schon damals eine schnell hochgezogene architektonische Brache, hässlich, monumental, überhaupt nicht heimelig. Und in diesem Jahr konnte man so richtig das Sterben der Geschäfte und der Gastronomie sehen. Schon im dritten Jahr hatten die Arkaden geschlossen, und wer sich die Mühe machte, das Sony-Center zu betreten, den starrten immer noch die leeren Leuchttafeln des seit zwei Jahren geschlossenen Cinestar-Kinos an. Die toten Augen von Berlin. 

Bei den ganzen Diskussionen um das Für und Wider im Vorfeld der physischen Berlinale ging manchmal auch der eigentliche Zweck der Veranstaltung unter: Filme zu zeigen. Filme, die ästhetisch etwas wagen, aber vielleicht auch etwas von den Problemen unserer Zeit erzählen. Und da hat sich der Wettbewerb der Ausnahme-Berlinale mit seinen 18 Filmen in nur 5 Tagen wacker geschlagen. In diesem Jahr hatten viele Filme des Wettbewerbs eine ganz klare soziale Ausrichtung, erzählten von harter Arbeit oder Justizbeugung. Mit dem Goldenen Bären für »Alcarràs« würdigte die Jury um den Präsidenten M. Night Shyamalan diese Strömung des Festivals. Der Film der Regisseurin Carla Simón wirft einen vielschichtigen Blick auf eine Familie, die von der Landwirtschaft lebt, der aber der Boden unter den Füßen weggezogen wird: weil der Großvater das Land per Handschlag überlassen bekam – ein solches Zeichen jedoch heute nichts mehr gilt. Und der Nachbar, der De-facto-Besitzer, will auf den Pfirsichplantagen lukrativere Sonnenkollektoren aufstellen. Simon gelingt es, den Mikrokosmos der weitläufigen Familie genauso einzufangen wie die anstrengende Arbeit beim Pflücken in der Sonne oder auch die Preispolitik der Großunternehmen, die die Früchte nicht gerade fair aufkaufen.

Geradezu zärtlich beschreibt Simón die landwirtschaftlichen Tätigkeiten in diesem kleinen Familienunternehmen in Südkatalonien, wie etwa immer wieder die Pfirsiche in den Kisten sortiert und gerichtet werden. 

Menschliche Arbeit spielte auch in zwei anderen Filmen eine wichtige Rolle. »Drii Winter« von Michael Koch (Schweiz) folgt einem Ehepaar, wie der Titel andeutet, über drei Jahre, in einem kleinen Alpendorf, wo die steilen Almen noch mit der Sense gemäht werden müssen. Mit einem langsamen Erzählrhythmus und in einem nahezu quadratischen Bildformat zeigt der Film eine fast archaische Verbundenheit mit der Natur; dafür hat Koch eine lobende Erwähnung der Jury erhalten. 

Ebenfalls aufs Land führt der chinesische Beitrag »Yin ru chen Yan« (Return to Dust) von Li Ruijin, dessen Ausgangspunkt die arrangierte Ehe zwischen zwei Außenseitern liefert, dem älteren Kleinbauern Ma und seiner Frau Guiying, die inkontinent und mehrfach behindert ist. Wie in früheren Jahrhunderten bestellen die beiden das Feld oder bauen ein neues Haus, aus selbst hergestellten Lehmziegeln und mit einem Strohmattendach, ohne moderne Technik, nur mit einem Esel. »Return to Dust« legt seinen Fokus auf den Alltag der ganz Armen. So lange hat man im Kino selten Menschen bei ihren Tätigkeiten zugesehen, beim Pflanzen mit der Hand, beim mühsamen Aufladen der Weizenballen, beim Dreschen auf dem Hof. Und doch findet »Return to Dust« immer wieder Zeit für die magischen Momente in diesem Leben. Einmal bekommen die beiden befruchtete Eier geschenkt, die Guying in einen selbst gebauten, innen beleuchteten Brutkasten platziert. Und die beiden sitzen darum wie Eltern, die in eine Wiege schauen. Leider ging dieses kleine Juwel, das heimliche Meisterwerk des Wettbewerbs, bei der Preisvergabe leer aus. 

In diese soziale Perspektive passte auch der neue Film von Andreas Dresen, »Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush«, der Kampf einer Mutter um ihren in Guantanamo über fünf Jahren ohne Anklage inhaftierten Sohn. Dem Sozialrealisten Dresen gelingt nicht nur ein berührendes Frauenporträt, sondern er liefert auch gekonnt die juristischen und politischen Feinheiten mit. Die Kölner Comedienne Meltem Kaplan hat für ihre burschikose Verkörperung der Rabiye zu Recht einen Silbernen Bären für die beste schauspielerische Leistung bekommen, Laila Stieler einen Silbernen Bären für das beste Drehbuch. Der Film kommt Ende April in die deutschen Kinos, voraussichtlich, wie man in diesen Zeiten sagen muss. 

Überhaupt gingen bei dieser Berlinale die meisten Bären an Frauen. Möglichkeiten zur Auswahl hatte die Jury genug. Was ja für den Wettbewerb in diesem Jahr spricht, der alles andere als ein Notwettbewerb war. Dass die Jury der französischen Altmeisterin Claire Denis den Regiepreis für ihre Dreiecksgeschichte »Avec Amour et acharnement« (Both Sides of the Blade) zusprach, hat dann doch überrascht, wirkte der Film an manchen Stellen doch leider bedauerlich unsubtil. Und es gibt weit interessantere Filme von Denis. 

Ein Liebling des Festivals ist der Koreaner Hong Sang-soo, dessen Low-Budget-Filme, vorsichtig gesagt, dialoggeprägt sind. Schon 2020 und 2021 konnte er einen Silbernen Bären erringen; für sein neuestes Werk, »The Novelist’s Film«, die Vorgeschichte eines Filmprojekts, gab es den Großen Preis der Jury. Es ist sicherlich Hong Sang-soos eingängigster Film seit langem, auch wenn bei den tableauhaften Einstellungen das Gespräch wie immer im Vordergrund steht. Aber er hat Charme und entwickelt an der Person einer Schriftstellerin immer eine Episode aus der anderen. 

Zwei großartige Filme im Wettbewerb wurden von der Internationalen Jury leider übersehen, zwei Filme, denen es gelingt, Entwicklungen zu zeigen und auch einen großen zeitlichen Bogen zu spannen. Der französisch-spanische »Un año, una noche« von Isaki Lacuesta erzählt eindringlich und einfühlend vom Trauma eines Liebespaars, das bei dem Bataclan-Anschlag dabei war. Ganz unterschiedlich sind ihre Wege der Verarbeitung, er bekommt Panikattacken, sie verdrängt eher. Und immer wieder schneidet Lacuesta Partikel des Anschlags dazwischen, bei dem 89 Menschen ums Leben kamen. (Der Film bekam den Preis der Ökumenischen Jury.) »Les passagers de la nuit« von Mikhaël Hers (Frankreich) beginnt mit der Ankunft der jungen Talulah in Paris. Sie steht vor einem großen Stadtplan, es ist der 10. Mai 1981, Mitterand ist gerade zum Präsidenten gewählt worden. Der Film von Hers ist auch ein Panorama der 80er Jahre, liebevoll rekonstruiert, mit zeitgenössischer Musik und alten Plattenspielern. Drei Jahre später steht Elisabeth (Charlotte Gainsbourg) im Zentrum des durchaus multiperspektivischen Films. Sie wurde gerade von ihrem Mann verlassen, hat keine richtige Ausbildung und kein Geld, lebt mit ihrem Sohn und ihrer Tochter in einem Hochhaus und muss sich neu orientieren. Sie heuert als Telefonistin bei ihrer Lieblingssendung »Les passagers de la nuit« an, arbeitet sich zur Moderatorin hoch, hat noch einen zweiten Job in einer Bibliothek bekommen. Auch wenn Elisabeth und ihre Selbstbehauptung im Mittelpunkt stehen, folgt der Film auch den Lebenslinien ihrer Kinder und Talulahs. Man hat hier tatsächlich das Gefühl, dem Leben bei der Arbeit zuzusehen.

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