70. Filmfestival San Sebastián

Die Dinge des Lebens
»Los reyos del mundo« (2022)

»Los reyos del mundo« (2022)

Bei den 70. Filmfestspielen von San Sebastián siegte zum dritten Mal in Folge der Beitrag einer Regisseurin: »Los reyos del mundo« von Laura Mora aus Kolumbien gewann die Goldene Muschel

Ihnen gehört nicht viel. Ein paar zerknitterte Dokumente und eine verblichene Fotografie eines Hauses auf dem Land. Fünf Straßenjungs aus Medellin machen sich auf in den Dschungel, um dieses Haus wieder in Besitz zu nehmen. Einer von ihnen, Rá, hat das Haus seiner Familie wieder zugesprochen bekommen, nachdem seine Familie von den Paramilitärs enteignet wurde. »Los reyos del mundo« (The Kings of the World) folgt der Odyssee der fünf, begleitet von Anfeindungen und spontaner Hilfe und Zwistigkeiten untereinander. Denn die fünf sind aggressiv, fuchteln mit ihren Macheten herum und werfen schon mal mit Flaschen um sich. Aber gerade die Ambivalenz macht Laura Moras Film so interessant, der en passant immer wieder auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu sprechen kommt; die Restituierung von Land ist ein großes Thema in Lateinamerika.

»Los reyos del mundo« war ein würdiger Preisträger der Jubiläumsausgabe des Filmfestivals von San Sebastián, das in diesem Jahr zum 70. Mal über die Bühne ging. Und es war die erste Festivalausgabe ohne Einschränkungen nach zwei Jahren Pandemie, mit vielen Stargästen wie Penélope Cruz, Ana de Armas oder dem Kultregisseur David Cronenberg und knallvollen Sälen, so dass fast die Besucherzahlen von 2019 wieder erreicht werden konnten. Der Wettbewerb des Festivals, das größte in der spanischsprechenden Welt, legte in diesem Jahr deutlich sein Gewicht auf Filme aus diesem Sprachgebiet, von 17 Filmen, die um die Goldene Muschel konkurrierten, kamen immerhin sieben aus Spanien oder Lateinamerika. 

Und »Los reyos del mundo« spiegelte auch noch in anderer Hinsicht eine Tendenz des Wettbewerbs wider. Viele Filme erzählten sehr einfühlsam private, existenzielle Geschichten, etwa von der Trauer einer Familie nach dem Tod des Sohnes in dem dänischen Beitrag »Resten af Livet« (Forever) von Frelle Petersen oder vom Umgang mit Demenz in dem japanischen Beitrag »Hyakka« (A Hundred Flowers) von Genki Kawamura, der für seinen sensibel und poetisch inszenierten Beitrag die Silberne Muschel für die beste Regie entgegennehmen konnte. »Die Dinge des Lebens« heißt passenderweise ein Film des französischen Regisseurs Claude Sautet von 1970, dem das Festival in diesem Jahr seine Retrospektive widmete. Der Titel könnte wie ein Motto über dem Festival stehen. 

Auch der neue Film des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl, der immer mit Laiendarstellern arbeitet, erzählt eine existenzielle, dunkle Geschichte. In »Sparta« erkennt ein in Rumänien arbeitender Österreicher seine pädophilen Neigungen und gründet in der Provinz eine Judoschule für Kinder. Der Film war mit Spannung erwartet worden, weil kurz vor Beginn des Festivals im »Spiegel« ein Text erschienen war, der der Filmproduktion – ohne Kenntnis des Werks – vorwarf, die Kinder nicht richtig betreut und ihnen vor allem den Inhalt des Films vorenthalten zu haben. Allerdings recherchierte der »Spiegel« lange nach den Dreharbeiten – und musste sich auf das Hörensagen verlassen. Seidl widersprach vehement. Doch der kalkulierte Skandal blieb in San Sebastián aus, auch wenn Ulrich Seidl der Pressekonferenz und der Premiere fernblieb, um seinen Film wirken zu lassen. »Sparta« bekam ordentlichen Applaus, und Buhrufe waren nicht zu hören. »Sparta« ist eine eher sensible Charakterstudie über einen Mann, der realisiert, was in ihm brodelt, und dagegen ankämpft: Eine übergriffige Handlung gibt es in diesem Film nicht. Festivalleiter José Luis Rebordinos tat gut daran, den Film zu zeigen; das parallel stattfindende Festival von Toronto hatte ihn aus dem Programm genommen. 

Die 70. Ausgabe des Filmfestivals von San Sebastián war auch ein gelungener Mix zwischen jungen Talenten und den großen Namen im internationalen Festivalzirkus, ­wie Christoph Honoré, Hong Sans-soo oder der Chilene Sebastián Lelio, der mit »Gloria« auf der Berlinale 2013 auf sich aufmerksam machte. Sein neuer Film »The Wonder« ist eine Netflixproduktion, aber San Sebastián lässt, im Unterschied zu Cannes, auch Werke zu, die für die Streamingdienste entstanden sind. »The Wonder« ist fürwahr ein Film für die große Leinwand, auch wenn er diese Woche im Netz startet .

Das Festival widmete Claude Sautet die Retro 

Fester und nicht unwichtiger Bestandteil des Festivals von San Sebastián ist die Retrospektive – nur im Corona-Jahr 2020 ist sie ausgefallen. Es waren in den letzten Jahren oft Programme, die für den europäischen Blick Unbekanntes entdeckten, das koreanische Kino der fünfziger und sechziger Jahre etwa oder den mexikanischen Regisseur Roberto Gavaldon. Der Name Claude Sautet schien auf den ersten Blick da nicht so ganz ins Konzept zu passen, ein Regisseur, dessen Filme der siebziger und achtziger Jahre zumindest in Frankreich große Kassenerfolge waren, der mit den bekanntesten Schauspielerinnen und Schauspielern zusammengearbeitet hat, mit Romy Schneider und Emanuelle Béart, mit Michel Piccoli, Gerard Dépardieu und Yves Montand. Aber wer sich einmal die Mühe macht, die in deutschen Zeitungen zu Sautets Filmen erschienenen Kritiken zu sichten, merkt, wie viel Unverständnis und regelrechte Häme seinen Filmen entgegengebracht wurde, von nichtigen Problemen, spießigen, geradezu bourgeoisen Figuren und Pychopalaver ist die Rede. Die damaligen Kritiker wollten andere Filme, sie haben seinerzeit etwa die synthetische Welt von Fassbinder hofiert.

Und so konnte diese Retrospektive auch ein neues Licht werfen auf einen hierzulande oft verkannten Meister, der abseits des arrivierten französischen Autorenkinos stand. Er liebe das Banale, hat Sautet einmal gesagt, und seine Filme sind fasziniert vom Alltäglichen, den Ritualen seiner Figuren, die er ganz unprätentiös beobachtet. Nur 15 Filme als Regisseur hat Sautet hinterlassen, doch selten hat man das Café oder die Brasserie so oft gesehen wie bei ihm. Es ist die Bühne seiner Menschen, ein sozialer Ort, in dem er sich auf das Hin und Her der Blicke und Gespräche konzentrieren kann. Liebe und Gefühle werden dort besprochen, genau wie Geschäfte, und alle seine Hauptfiguren haben ihre Vorgeschichten, die sie mit sich herumtragen. 

Einer seiner Filme spielt dezidiert hauptsächlich in einer Brasserie: In »Garcon!« spielt Yves Montand einen alternden Kellner, der sich den Traum von einem Vergnügungspark für Kinder am Meer erfüllen will. Sautet lotet den Mikrokosmos zwischen Küche und Gastraum präzise aus, die Hierarchien, die Streitigkeiten, und entpuppt sich als genauer Beobachter menschlicher Arbeit. Montand soll lange geübt haben, bis er mehrere Teller übereinander herumbugsieren konnte. 

Arbeit spielt überhaupt eine wichtige, oft übersehene Rolle in seinen Filmen. In »Eine einfache Geschichte« verkörpert Romy Schneider die technische Zeichnerin Marie, in deren Betrieb es rumort. Sautet verschränkt die Umstrukturierungen in der Firma mit Maries Lebensgeschichte. »Eine einfache Geschichte« beginnt mit der Abtreibung, die Marie vornehmen lässt, weil sie sich von ihrem Freund (Claude Brasseur) trennt. Auch in Frankreich wurde die Abtreibung erst Mitte der siebziger Jahre legalisiert, das muss man sich bei aller Selbstverständlichkeit in diesem Film vergegenwärtigen. Marie hat schon einen 16-jährigen Sohn aus erster Ehe. Und mit dessen Vater (Bruno Cremer), der auch einer der Chefs des Unternehmens ist, beginnt sie eine kurze Affäre. Diesmal wird sie das Kind behalten, ohne den Vater in Kenntnis zu setzen. So einfach, wie der Titel suggeriert, ist die Geschichte natürlich nicht. Um Marie herum hat Sautet andere Schicksale von Frauen gruppiert, deren Freundschaft sie sucht. Und man merkt ihr Selbstbewusstsein und ihre Eigenständigkeit. Ein »Frauenfilm«, wie das damals hieß, der aber bei uns nur Spott erntete. Oft haben bei Sautet, auch wenn Männer im Vordergrund stehen, die Frauen die Dinge des Lebens in der Hand. »Die Dinge des Lebens« ist Sautets zweites großes Meisterwerk mit Romy Schneider, auch wenn der Film eigentlich ein Lebensrückblick ihres Geliebten Pierre (Michel Piccoli) ist, ein Mann, der erst im Tod bemerkt, wie er am Vergangenen geklebt hat und wie wichtig ihm die Gegenwart geworden ist. 

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