Venedig: Die Frauen räumen ab

»L'événement« (2021)

»L'événement« (2021)

Mit der Verleihung des Goldenen Löwen an das französische Abtreibungsdrama »L'événement« (Das Ereignis) von Audrey Diwan ging eine sehr erfolgreiche Ausgabe des Filmfestivals von Venedig zu Ende. Sie flößt der darbenden Branche neue Hoffnung ein

Schon oft wurde es angekündigt, in diesem Jahr nun scheint es endlich wahr zu werden: 2021 wird für das Kino als »Jahr der Frau« in die Geschichte eingehen. Nach dem Oscar und den Filmfestival von Cannes verlieh nun auch das Filmfestival von Venedig seinen Hauptpreis an eine Regisseurin. Die 40-jährige Französin Audrey Diwan gewann mit »L'événement« (Das Ereignis) den Goldenen Löwen.

Nach dem gleichnamigen autobiografischen Roman von Annie Ernaux erzählt Diwan in ihrem Film die Geschichte einer illegalen Abtreibung im Frankreich der frühen 1960-er Jahre. Mit der Unmittelbarkeit einer intimen Dokumentation zeichnet sie eine Gesellschaft nach, in der allein schon das Wort für Schwangerschaftsabbruch tabu ist. Die Studentin Anna (mit großer Intensität von Anamaria Vartolomei verkörpert) muss völlig auf sich gestellt einen Ausweg für ihre Situation suchen, mit hohem Risiko der sozialen Ächtung und der eigenen Gesundheit. Nicht nur im Kontext der aktuellen Entwicklungen in den USA kommt dem Film eine besondere Aktualität zu. Die Jury unter Vorsitz des koreanischen Regisseurs Bong Joon-ho, der 2019 mit »Parasite« den Oscar gewann, betonte die große Einigkeit ihrer Entscheidung.

Im Unterschied zu anderen Jahrgängen – im 2020 hatte die amerikanisch-chinesische Regisseurin Chloe Zhao mit »Nomadland« den Goldenen Löwen gewonnen – war Audrey Diwan zum Abschluss der 78. Filmfestspielspiele in Venedig nicht die einzige Frau mit einer Statuette in den Händen. Die Neuseeländerin Jane Campion, die bis zu diesem Jahr die einzige Regisseurin mit einer Goldenen Palme aus Cannes war, erhielt für ihren Neo-Western »The Power of the Dog« den silbernen Löwen für die beste Regie. Und die amerikanische Schauspielerin Maggie Gyllenhaal konnte für das Drehbuch ihres Regiedebüts »The Lost Daughter« den Preis fürs beste Drehbuch mit nach Hause tragen.

Beide Filme thematisieren das Geschlechterthema so originell wie eigensinnig: Campion demontiert mit Hilfe eines bravourösen Benedict Cumberbatch in der Hauptrolle das Männlichkeitsbild des Cowboys präzise und vernichtend, während Gyllenhaal in ihrer Adaption eines Elena-Ferrante-Romans Olivia Colman eine Wissenschaftlerin spielen lässt, die mit ihrer Mutterrolle hadert.

Von den Unwägbarkeiten des Mutterseins handelte auch Pedro Almodóvars »Parallel Mothers«, für den Hauptdarstellerin Penelópe Cruz mit dem begehrten Darsteller-Preis Coppa Volpi ausgezeichnet wurde. Das männliche Gegenstück ging an den philippinischen Schauspieler John Arcilla für seine furiose Verkörperung eines Journalisten, der sein Gewissen wiederentdeckt, in »On the Job: The Missing 8« – einem Film, der trotz seiner Länge von über 200 Minuten zu einem Festivalliebling wurde.

Arcilla blieb naturgemäß trotz aller guter Absichten nicht der einzige Mann, der ausgezeichnet wurde: Den Grandprix verlieh die Jury an den Italiener Paolo Sorrentino, dessen autobiografisch geprägter Film über ein Coming-of-Age im Neapel der 1980-er Jahre, »The Hand of God«, vom einheimischen Publikum sehr gefeiert wurde. Und Filippo Scotti, der Sorrentinos jugendliches Alter Ego verkörpert, erhielt unter entsprechend viel Beifall den Marcello-Mastroianni-Preis als herausragendes junges Talent.

Dass manchmal die explizite Abkehr von aktuellen Themen einen umso fesselnderen Kommentar zur Gegenwart bilden kann, bewies der italienische Regisseur Michelangelo Frammartino mit »Il buco«. Semidokumentarisch, ohne gescripteten Dialog, stellte er darin die Erforschung einer kalabrischen Höhle Anfang der 1960-er Jahre nach. Der Film bezauberte mit seiner Achtung für die Wunder der Erde und den Kreislauf der Natur. Es wäre schön, wenn der Jury-Preis, den »Il buco« bekam, dem Film den Weg in die Kinos der Welt ebnen würde.

Doch auch jenseits der Preise ist dieser 78. Ausgabe des venezianischen Festivals eines gelungen: den Kreislauf des Kinos auf eine Weise zu beleben, die noch vor einem halben Jahr kaum jemand für möglich gehalten hätte. Mit Stars, die im Stundentakt per Wassertaxi anlegten, mit feierlichen Premieren und sehr viel mehr Laufpublikum als erwartet, war die Sehnsucht nach einer Rückkehr zur vor-pandemischen Normalität gewissermaßen mit Händen zu greifen. In den Preisentscheidungen der Jury jedoch schlug sich zugleich der Wille zur Neuorientierung im männerdominierten Filmgeschäft nieder. Selbst Ben Affleck, zusammen mit Freundin Jennifer Lopez angereist, um Ridley Scotts außer Konkurrenz präsentiertes Ritterdrama »The Last Duel« zu promoten, bekannte in Venedig: »Ich betrachte mich als Feministen«.

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