Venedig: Was Frauen wollen – und denken

76th Venice International Film Festival
»The Truth« (2019)

»The Truth« (2019)

Das 76. Filmfestival von Venedig eröffnet unter Kontroversen mit Catherine Deneuve in einer großen Altersrolle und einem außergewöhnlichen deutschen Film über das Muttersein

Die Stimmung zum Auftakt ist nicht die beste. Gleich in der Begrüßungspressekonferenz sah sich Venedigs Festivaldirektor Alberto Barbera wieder mit kritischen Fragen konfrontiert nach der mangelnden Repräsentation von Frauen und der als problematisch empfundenen Teilnahme von Roman Polanski im Wettbewerb. Auf den zweiten Punkt antwortete Barbera erneut mit dem Hinweis, dass Werk und Künstler zu trennen seien. Und auf den ersten gibt die Filmauswahl selbst vielleicht die bessere Antwort: Eine Quote lehnt Barbera strikt ab, aber sein Programm startete immerhin mit einer starken Reihe von Filmen, in denen es explizit um die weibliche Sicht der Dinge ging.

So zum Beispiel im Eröffnungsfilm des japanischen Regisseurs Hirokazu Kore-eda, der in seinem ersten englisch-französisch-sprachigen Film »The Truth« (La vérité) Catherine Deneuve und Juliette Binoche ein Mutter-Tochter-Paar spielen lässt. Deneuve gibt eine alternde Schauspiel-Diva, die gerade ihr Memoiren geschrieben hat – in denen die mit Familie aus New York anreisende Tochter, selbst eine Drehbuchschreiberin, so gut wie keine Rolle spielt, wie sie traurig feststellen muss. Was als Klischee von zickigem Altstar und vernachlässigtem Kind beginnt, entwickelt sich unter der subtilen Regie des Meisters für Zwischentöne zu einem hintergründigen Drama über familiäre Bindungen.

Perfekte Eltern gibt es so wenig wie perfekte Kinder, scheint »The Truth« zu sagen, und die Wahrheit ist immer eine Rekonstruktion und damit nah an der Fiktion. Für seine Botschaft aber ist »The Truth« eine Spur zu glatt geraten, auch verharrt der Film ein wenig zu sehr in der Verneigungshaltung vor der großen alten Dame, der 75-jährigen Deneuve, die man gerne mehr gefordert gesehen hätte.

Familie ist das erste große Thema dieses Festivals: Haifaa Al Mansour aus Saudi-Arabien, eine der nur zwei Regisseurinnen im diesjährigen Wettbewerb, erzählt in »The Perfect Candidate« von einer jungen Ärztin. Sie ist von den engen Vorgaben, die ihr die saudiarabische Gesellschaft aufgrund ihres Geschlechts macht, eher genervt, als dass sie dagegen aufbegehren wollte. In die Kandidatur für den Stadtrat stolpert sie mehr hinein, als dass sie sie anstreben würde. Aber mit den sich häufenden Frustrationen in ihrem Berufsleben wird auch ihr Widerstandsgeist geweckt, und sie beginnt Gesicht zu zeigen.

»The Perfect Candidate« ist ein oberflächlich gefälliger Film, der auf traditionelle Momente der Rührung setzt und sein subversives Potenzial dabei in Details mehr verbirgt als offenlegt. Doch wie schon in ihrem Erstling »Das Mädchen Wadjda« gelingt es Al Mansour durch ihren unaufgeregten Blick auf die Gegensätze des Innen- und Außenlebens einer saudiarabischen Familie Verständnis zu wecken für eine Kultur, die sich dem Westen meist als völlig opak und verschlossen darstellt.

Sehr viel radikaler geht die deutsche Regisseurin Katrin Gebbe in ihrer Familienaufstellung, dem Film »Pelikanblut«, vor, mit dem die Parallelsektion der »Horizonte« in Venedig eröffnete. Nina Hoss spielt darin die unabhängige Pferdetrainerin Wiebke, die nach einer ersten offensichtlich erfolgreichen Adoption ein zweites kleines Mädchen zu sich nimmt. Die Sechsjährige stellt sich allerdings binnen kurzem nicht nur als schwierig, sondern als geradezu hinterhältig und böse heraus. Doch Wiebke möchte die Kleine nicht aufgeben. Sie ist bereit auch ungewöhnliche Wege zu gehen, in medizinischer wie spiritueller Hinsicht.

Wie kann man ein schwer traumatisiertes Kind Empathie, Liebe und Mutterbindung lehren? Mit einer großartigen Nina Hoss, die geheimnisvoll zwischen Stärke und eigener Verletzlichkeit schillert, hält »Pelikanblut« in fesselnder Weise die Balance zwischen Horror- und Psychodrama. Als Zuschauer weiß man oft nicht, ob man hier einer Frau zuschaut, die als Mutter über andere Ressourcen verfügt als es die üblichen Institutionen und Therapien können, oder ob es hier um ein Abgleiten in den Wahn geht. »Pelikanblut« ist ein Film, der beunruhigt, gerade weil er keine einfachen Antworten gibt – und der auf dem Festival weiter von sich reden macht.

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