Venedig: Kino auch jenseits von Netflix

76th Venice International Film Festival

Zu wenige Frauen, zu viele Frauenbelästiger, aber jede Menge Stars und verheißungsvolle Oscar-Kandidaten: Am Mittwoch beginnen die 76. Filmfestspiele von Venedig

Es ist ein Filmfest-Ritual mindestens so traditionsreich wie die Stars auf dem roten Teppich: die Erbsenzählerei, also die statistische Auswertung der Filme im Programm. Noch vor wenigen Jahren war zum Beispiel stets die wichtigste Zahl die der US-Filme im Wettbewerb, wonach sich die zu- oder abnehmende Dominanz von Hollywood über das europäische Autorenkino bemaß. Inzwischen stehen andere Kriterien im Mittelpunkt, die die aktuellen Veränderungen in der Branche gut widerspiegeln. Wie viele Frauen sind vertreten, wird heute gefragt, und vielleicht wichtiger noch: wie viele Netflix-Filme?

Die 76. Ausgabe des Filmfestivals von Venedig gibt dabei von Mittwoch an ein interessant zwiespältiges Bild ab. Mit nur zwei Frauen unter den 21 Wettbewerbsteilnehmern hat sich die Anzahl der Regisseurinnen gegenüber dem vergangenen Jahr zwar verdoppelt, aber der echten Gleichberechtigung wurde kein Dienst erwiesen. Zugleich steht Venedig mit gleich drei Netflix-Filmen im Gesamtprogramm, zweien davon im Wettbewerb, in den Augen Mancher erneut als Vorreiter neuer Distributionswege da. Andere dagegen, darunter vor allem die Kinobetreiber, erklären das Festival für mitschuldig am Untergang der einmaligen Kinokultur Europas.

Letzteren Vorwurf schüttelt man in Venedig mit Schulterzucken ab, handelt es sich doch bei den Netflix-Filmen sämtlich um prominent besetzte Produktionen, die jedes Festival gerne in seinem Programm sähe: Noah Baumbachs Scheidungsdrama »Marriage Story« mit Adam Driver und Scarlett Johansson in den Hauptrollen eilt der Ruf voraus, der bislang beste Film des Indie-Regisseurs zu sein. Und Stephen Soderberghs »The Laundromat« punktet nicht nur mit Starbesetzung – Meryl Streep, Gary Oldman, David Schwimmer und Antonio Banderas –, sondern auch mit dem kontrovers-aktuellen Thema der Panama-Papers.

Hoch auf der Liste der potenziellen Festivalhits mit Oscar-Chancen in diesem Jahr stehen aber nicht nur die Netflix-Filme, sondern daneben etwa auch Todd Philipps' »Joker«. Darin wird der Bösewicht aus den »Batman«-Filmen von Joaquin Phoenix verkörpert und erhält eine eigene »Ursprungsgeschichte« als unglücklicher Stand-Cup Comedian. Große Erwartungen richten sich auch an das Weltraum-Drama »Ad Astra« von James Gray, in dem Brad Pitt einen Astronauten spielt, der seinen von Tommy Lee Jones verkörperten Vater im All sucht.

Aber auch jenseits der Amerikaner kann das diesjährige Venedig-Programm mit einigen großen Namen des Weltkinos auftrumpfen. Der Eröffnungsfilm, »The Truth« ist der erste nicht-japanische Film des preisgekrönten Regisseurs Hirokazu Kore-eda, der unter anderem 2018 mit »Shoplifters« die Goldene Palme in Cannes gewann. In »The Truth« spielen Catherine Deneuve und Juliette Binoche ein Mutter-Tochter-Paar in New York. Auch der französische Regisseur Olivier Assayas hat für seinen neuen Film »Wasp Network« die heimatlichen Gefilde verlassen und drehte seine Kuba-Spionage-Geschichte unter anderem in Florida mit den spanisch-sprechenden Schauspielstars Penelope Cruz, Wagner Moura, Edgar Ramirez und Gael Garcia Bernal.

Als problematisch wird vielerorts empfunden, dass Festivaldirektor Alberto Barbera im reichhaltigen Programm auch zwei Regisseure untergebracht hat, deren Teilnahme viele in Zeiten von #MeToo kritisieren: Roman Polanski und Nate Parker. Die Problemfälle sind dabei sehr unterschiedlich. Polanski, der seinen neuen Film »J'accuse« über die Dreyfus-Affäre im Wettbewerb vorstellt, hat seine Schuld im Fall der 42 Jahre zurückliegenden Vergewaltigung einer Minderjährigen vielleicht verharmlost, aber nie bestritten. Geändert hat sich die Wahrnehmung seiner Tat, wie nicht zuletzt die Oscar-Akademie demonstrierte, die den heute 86-Jährigen noch 2003 für seinen »Klavierspieler« mit drei Oscars feierte, letztes Jahr dann aber seine Mitgliedschaft in der Akademie aufkündigte.

Der Afroamerikaner Parker dagegen wurde von einer Vergewaltigungsklage aus College-Jahren eingeholt, gerade als er 2016 mit »The Birth of a Nation«, einem drastischen Drama über einen blutige Sklavenrevolte im 19. Jahrhundert, groß herauskam. Auf dem Festival in Sundance 2016 noch als Hoffnung eines neuen amerikanischen »Black Cinema« gefeiert, zeigte Parker sich nicht in der Lage, in Bezug auf den damaligen Vorwurf und seinen Freispruch den richtigen Ton zu treffen; ein totaler Image-Verlust war die Folge. Parkers neuer Film »American Skin«, den er deshalb jenseits von Hollywood finanzieren musste, läuft außerhalb des Wettbewerbs und ist gleichsam die Bitte nach einer zweiten Chance.

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