Locarno im 71. Jahr: optimistisch in die Zukunft

»A Land Imagined« (2018)

»A Land Imagined« (2018)

Dass der künstlerische Leiter des Festivals von Locarno, Carlo Chatrian, in diesem Jahr seine Abschiedsvorstellung gab, um ab 2020 in derselben Funktion die Berlinale zu übernehmen, verschaffte dem Schweizer Festival von deutscher Seite eine erhöhte Aufmerksamkeit in Form gestiegener Akkreditierungen. In Interviews gab sich Chatrian verständlicherweise zurückhaltend, obwohl der Spagat von künstlerischer Erneuerung und Publikumsfestival , der von ihm bei der Berlinale erwartet wird, auch Locarno kennzeichnet, einerseits der Internationale Wettbewerb, der zwischen den großen Drei Berlin, Cannes und Venedig eher auf Entdeckungen setzen muss, was noch mehr für die Nebenwettbewerbe wie ‚Cineasti del presente' und ‚Pardi di Domani' gilt, andererseits die abendlichen Freiluftvorführungen auf der Piazza Grande mit ihren 8000 Plätzen, die das kommerzielle Rückgrat des Festivals bilden. Wobei es auch dabei durchaus schon mal unkonventioneller zugehen darf. Etwa, als vor zwei Jahren der britische Zombiefilm »The Girl with All the Gifts« als Eröffnungsfilm ausgewählt wurde oder als diesmal eine restaurierte Fassung von Lino Brockas »Manila in the Claws of Light« (1975) gezeigt wurde (allerdings erst als zweiter Film gegen Mitternacht). Dabei wies Brockas Film einige Parallelen zum diesjährigen Hauptgewinner auf: »A Land Imagined« des Regisseurs Yeo Siew Hua aus Singapur verband gleichfalls Liebes- und Kriminalgeschichte mit einem Einblick in soziale Verhältnisse.

Ansonsten fanden sich im Wettbewerb viele starke Frauenfiguren, sei es im türkischen »Sibel« (eine deutsche Koproduktion), im libanesischen »Yara«, im amerikanischen »Diana«, darunter auch eine Reihe von solchen, die auf den ersten Blick nicht unbedingt Zuschauersympathien verbuchen konnten, wie das junge Mädchen »Alice T.« im Film von Radu Muntean, die ihre Schwangerschaft mit einer schnellen Abtreibung beendet, oder die 17jährige, die sich inzestuös zu ihrem Bruder hingezogen fühlt (in Thomas Imbachs »Glaubenberg«), oder die drei Freundinnen im kroatischen »Likemeback«, die die ganze Zeit an ihren Smartphones hängen und sich ihren Followern präsentieren. 

Die größte Herausforderung allerdings bot Jan Bonnys »Wintermärchen«, eine freie Verfilmung vom Leben des NSU-Terrortrios im Untergrund. Alle drei Figuren wechseln zwischen Stärke und Schwäche, aber die Frau, die hier Becky heißt, erscheint letztlich als die treibende Kraft. Von ihren Morden bekommt man nur wenig zu sehen, der Film konzentriert sich auf die Psychodynamik unter Druck: die meiste Zeit beschimpfen sie sich gegenseitig oder aber haben - in allen möglichen Konstellationen – Sex miteinander. Angenehmer anzusehen war da die Familiendynamik in »Ray & Liz«, mit dem der britische Fotograf Richard Billingham sein Langfilmdebüt gab. Es ist seine eigene Familie, die er hier porträtiert, die Eltern zwischen Alkohol und Besuchen der Fürsorge in der Sozialwohnung, die Söhne zwischen Streichen, mit denen sie die Zeit totschlagen und der Perspektive, in eine Pflegefamilie zu kommen. »Bleak Moments« wäre ein passender Alternativtitel für den Film gewesen, erinnerte er doch oft an den gleichnamigen Debütfilm von Mike Leigh, vor 46 Jahren in Locarno mit dem ‚Goldenen Leoparden' ausgezeichnet.

Bleibende angenehme Eindrücke: der neue Film von Hong Sangsoo, »Gangbyun Hotel«, eine schwarzweiße Wintergeschichte um die Begegnung eines alten Schriftstellers mit seinen beiden Söhnen in einem Hotel und – mein persönlicher Lieblingsfilm – Antoine Russbachs »Ceux qui travaillent«, dessen erzählerisches Understatement auch dem Hauptdarsteller Olivier Gourmet zu verdanken ist. Als Mann, der sein ganzes Leben der Arbeit gewidmet hat, beginnt er nach seiner Entlassung seine bisherige Einstellung zu hinterfragen. Bleibenden Eindruck hinterließen auch zwei Gäste, die mit einem Ehrenpreis ausgezeichnet wurden und in ausführlichen Gesprächen viel von ihrem Handwerk vermittelten: Ethan Hawke, der seine neue Regiearbeit »Blaze«, einen Spielfilm über den texanischen Musiker/Songwriter Blaze Foley, vorstellte, und Kyle Cooper, dessen Namen man immer nur im Abspann der Filme liest, für die er aufregende Vorspannsequenzen kreiert – von David Finchers »Se7en« bis zur Serie »American Horror Story«.

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