Interview mit Christian Petzold über seinen Film »Transit«

Das Kino, ein Zwischenreich
Christian Petzold © Schramm Film / Marco Krüger

Christian Petzold © Schramm Film / Marco Krüger

Ihr letzter Kinofilm »Phoenix« hatte seinen Ausgangspunkt in Ihrer Lektüre eines Heftes der »Filmkritik«, das Hitchcocks »Vertigo« gewidmet war. Das erschien 34 Jahre, bevor Sie den Film drehten. Hat »Transit« eine ähnlich lange Entstehungsgeschichte?

Ich bin mit Harun Farocki jeden Samstag morgen zum Fußball gefahren. Damals waren wir noch keine Freunde, das war einfach eine Mitfahrgelegenheit. Ich war Student und habe versucht, ihn ein bisschen zu beeindrucken – was man so macht mit 20 Jahren: immer dick auftragen, à la »Ich habe gerade xy gelesen, das beste Buch, das je in deutscher Sprache erschienen ist!« – Da hat er einmal gesagt:, »Weißt Du, was ein großes Buch ist, das vergessen ist? »Transit« von Anna Seghers.« Das war seit Ende der achtziger Jahre im Grunde unser Referenzbuch für alle unsere Geschichten, weil wir dachten – und ich empfinde es immer noch so –, dass der Transit, also der Durchgangsraum, das Zwischenreich auch des Kinos ist. Leute, die nicht mehr gebraucht werden, die aus der Arbeit, aus der Liebe, aus der Identität fallen, die in den Zwischenräumen umherziehen und sich noch einmal versuchen zu finden, sei es durch eine Tat, sei es durch eine letzte Liebe: dass das eigentlich die Kinofiguren sind.

Wir hatten schon begonnen, darüber nachzudenken, ob wir »Transit« verfilmen könnten, aber ich hatte nach »Phoenix« nicht mehr die richtige Lust, historisch zu denken, eine Welt zu rekonstruieren. Wir hatten ein erstes Treatment geschrieben, das sich eng an den Roman hielt und auch im Jahr 1940 gespielt hat. Während der WM 2014 haben wir uns beide zwischen Halbfinale und Finale angeguckt und gesagt, irgendetwas stimmt da nicht. Irgendwann kam mir die Idee, dass das Zwischenreich ja nicht nur das Reich auf der Ebene des Films ist, sondern auch das zwischen Vergangenheit und heute. Und damit habe ich einen neuen Zugang gefunden.

Was hat es für Konsequenzen gehabt, die Geschichte in der Gegenwart oder eher: in einer gewissen Zeitlosigkeit anzusiedeln?

Das hat die erste, ganz profane Konsequenz gehabt, dass ich das kaum jemand vermitteln konnte, der Geld hineinstecken wollte: Ist das jetzt ein Brechtscher Verfremdungseffekt, den Du vorhast? Soll das so eine Art Gespenstergeschichte sein? Ich habe dann gesagt, das mit den Gespenstern kommt der Sache schon ein wenig näher. Ich bin nach Marseille gefahren und habe mir vorgestellt »Ich bin auf der Flucht, ich musste aus Deutschland weg. Ich will nach Amerika kommen.« Damals wurde gerade der »Dschungel« in Calais geräumt, die AfD marodierte in Deutschland – ich habe mir gedacht, das ist irgendwie gar nicht befremdlich. Und das konnte ich dann den Produzenten und Geldgebern gut erklären.

Gab es bestimmte Regeln, etwa, was Ausstattung oder Kostüme anbelangt?

Die einzige Regel, die ich hatte, war: keine Smartphones. Das hat nicht nur mit dem Sujet von »Transit« zu tun. Mein Sohn hat mir einmal die Augen geöffnet, als er meinte: Es gibt zwei Sachen, die man nicht machen darf: man darf keine Animationen benutzen und keine Smartphones, weil das die Filme wahnsinnig altern lässt. Ich habe mit dem Ausstatter besprochen: wir nehmen keine Smartphones, keine Computer.

… und keine Musicboxen, hat Franz Rogowski ergänzt.

Ja, das ist das Schöne, mit klugen Schauspielern zusammen zu arbeiten. Es gibt ja Schauspieler, die leben nur ihre Rolle: Wie viele Auftritte, wie viele Sätze habe ich? Franz Rogowski aber hat das Buch präzise gelesen und gesagt, na ja, das ist alles ganz toll, aber da gibt es in einer Bar einen Flipperautomaten und eine Musicbox, um die Leute herumstehen: Da wird der ganze Film retro,ein willkürliches Museum von Dingen.

Mich hat ja Franz Rogowski in »Transit« und auch in Thomas Stubers »In den Gängen« sehr überrascht, weil er vorher oft auf schräge Charaktere festgelegt schien. Wo haben Sie seine Normalität entdeckt?

Anfangs wusste ich überhaupt nicht, wer in »Transit« spielen sollte. Beim Schreiben früherer Filme hatte ich Nina und Devid Striesow und Benno Führmann schon im Kopf. Ich habe dann Anna Karina und Belmondo als Postkarten neben den Monitor gestellt – nicht, dass ich Nerd-Kino machen wollte, aber Belmondo fährt ja in »Außer Atem« auch von Paris ans Mittelmeer, das ist auch ein Entwicklungsroman – das war eine Ähnlichkeit zu der Figur in »Transit«. Meine Editorin Bettina Böhler sagte: »Schau Dir doch mal einen mumblecore-Film an.« Ich mag diese Filme eigentlich nicht, die haben keine Einstellung zur Welt und laufen dem Geschehen hinterher. Sie empfahl mir »Love Steaks«, von dem ich tatsächlich begeistert war, besonders von Franz. Er hat in den Massagesequenzen eine wahnsinnige Traurigkeit. Ich glaube, dass jeder Held im Kino, ob weiblich oder männlich, traurig ist und aus dieser Traurigkeit eine Empathie entwickelt.

Als regelmäßiger Leser der »Filmkritik« und durch den Kontakt zu Harun Farocki wussten Sie vermutlich auch von der filmischen Adaption, die Gerhard Theuring und Ingemo Engström 1977 als »Fluchtweg nach Marseille« gemacht haben und der die »Filmkritik« damals ein ganzes Heft widmete?

Das habe ich während der Dreharbeiten von unserem Tonmann Andreas Mücke, der auch Absolvent der dffb ist, geschenkt bekommen – er hat damals an dem Film mitgearbeitet. Harun Farocki hat »Transit« eigentlich durch Engström und Theuring kennengelernt, mit denen er befreundet war. Ja, ich wusste von dem Film, und in dem Moment, als ich anfangen wollte, mich damit zu beschäftigen, wollte ich das nicht mehr lesen. Ich habe alle Heft der »Filmkritik« – nur das nicht. Ich war schockiert, dass die Einstellung von Paula Beer am Fenster am Hafen absolut identisch ist mit der von Katharina Thalbach in »Fluchtweg nach Marseille«. Das ist ja auch eher eine Recherche als ein Roman – ich habe mir immer gedacht, dass man die beiden Filme als Doppelprogramm zeigen sollte.

Ist der Film komplett in Marseille gedreht oder gibt es Innenaufnahmen, die anderswo entstanden sind?

Wir hätten in der Tat mehr Förderung bekommen können, wenn wir Teile in Deutschland gedreht hätten. Aber das wollte ich nicht, ich wollte, dass die Schauspieler in eine Art Hafensituation passen. Wir haben alles komplett in Marseille gedreht, einschließlich der Paris-Szenen, da es nach den Terroranschlägen in Paris verboten war, solche Razziaszenen mit schwerbewaffneten Polizisten dort zu drehen.

Sie haben wieder auf 35mm-Material gedreht?

Nein, da gab es eine lange Diskussion; wir haben recherchiert und das einzige Kopierwerk, das für uns in der Nähe war, war das in Rom (das keinen guten Ruf hat): Da hat der Kameramann gesagt, die 35er-Muster aus dem Hafen mit Easy Jet nach Rom fliegen?! Das geht nicht nur ins Geld, wir hatten auch Angst um die Negative. Also haben wir uns entschieden, diesmal digital zu drehen – das ist der erste Kinofilm, den ich digital gedreht habe.

Hat das digitale Drehen es erleichtert, dass in Marseille guerilla-style gedreht wurde, also ohne Straßenabsperrungen?

Ich habe versucht, mein Drehverhältnis noch geringer als bei 35mm zu halten – auch wenn das Material weniger kostet. Wir können jetzt alles filmen, wir entscheiden alles in der Postproduktion – das zerstört das Kollektive des Kinos und macht es wieder individuell. Ich finde, das Kino kann die Welt nicht kontrollieren, das ist ja gerade das Schöne daran. Deswegen haben wir immer nur einen Take gedreht. Im Übrigen habe ich den Trick von Scorsese angewandt, der bei »Taxi Driver« auch nicht viel Geld hatte, aber in den Straßen von New York drehen wollte und nur drei Komparsen in der Nähe der Kamera platziert hat.

Ihr Kameramann Hans Fromm hatte aber schon Erfahrung mit digitalem Dreh?

Ja, er ist aber, anders als ich, auch ein Techniknerd : Als er wusste, dass wir digital drehen, hat er sich da unheimlich reingehängt – ich glaube, die Leute bei Arri hat er zur Weißglut getrieben. Er hat auch Objektive von Leica bestellt, die für 35mm-Kameras gedacht sind, und das auf der optischen Bank kombiniert. Den kann ich ein Jahr allein lassen, der kommt dann aus einem Labor mit etwas, das sehr, sehr schön ist.

Meinung zum Thema

Kommentare

ich denke hier ist nicht "außer atem", sondern "pierrot le fou" gemeint. Oder?

In AUSSER ATEM spielt Jean Seberg an der Seite von Belmondo; in PIERROT LE FOU spielen Anna Karina und Belmondo – hier irrt entweder Christian Petzold oder der Editor.

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