Kritik zu When Lightning Flashes Over The Sea
Zwischen Schönheit und Schrecken: Eva Neymann ist eine beeindruckende Liebeserklärung an die Stadt Odessa gelungen
»Halt an! Genieße den Augenblick!«, steht auf der Rückenlehne der Bank, die mit ihrer Front auf das Schwarze Meer schaut – kein Graffito, sondern ein eher amtlich anmutender Schriftzug. Das Sitzmöbel und einige Artgenossen spielen markante Statistenrollen in Eva Neymanns jüngstem Film. Sie stehen am Strand in der Stadt, die die 1974 in Saporischschja geborene und in Berlin lebende Filmemacherin als Heimat bezeichnet: Odessa – nicht nur wegen Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« für viele ein auratischer Ort, der seit Februar 2022 auch zum Ziel russischer Angriffe auf die Ukraine geworden ist.
2006 hatte Neymann nach mehreren Spielfilmen mit »Wege Gottes« einen Dokumentarfilm mit Straßenkindern gedreht. Nun führt wieder ein Kind in den Film, ein schlaksiger, etwa zehn Jahre alter Junge mit großem Rucksack, der beim Streunen durch die Schönheiten und Ruinen der Hafenstadt von Schokoladentorte und einer Zukunft als Kapitän träumt. Viele andere von Neymanns Begegnungen sind in fortgeschrittenem Alter: ein Mönch, der freigiebig seine bescheidene Habe austeilt und Joseph Brodsky zitiert; eine alte Dame, die nach dem Tod ihrer Lieben Leben und Stube gemeinsam mit Dutzenden Katzen bewohnt; eine Jüdin, die durch Glück die deutsche Verfolgung in Moldau überlebt hat und ins Jiddische wechselt, als sie auf dem Bettsofa an ihre ermordete Schwester erinnert und sich bei Gott für die eigene Rettung bedankt. Andere stehen mitten im Leben, wie eine Köchin, die beim Kohlschnippeln von ihrer abchasischen Herkunft und ihrem Sohn erzählt, der im Krieg kämpft. Und ein junger Mann befürchtet, nach der Einberufung an der Front seinem Bruder gegenüberzustehen, der in Moskau lebt.
Mal ist der Takt des Films gewichtig schwer, wenn eine Ikone unter Mönchsgesängen in den Keller einer zerstörten Kirche getragen wird. Ironie gibt es bei einem tänzelnd folkloristischen Marsch zu einer improvisierten Katzennummer. Überhaupt ist der einfallsreiche Musikeinsatz vom spielerisch eingesetzten Boccherini-Menuett bis zu einem schwermütigen Straßenmusiker mit Akkordeon bemerkenswert: Dabei gelingt Neymann die Kunst, selbst Vorhangfetzen in einem zerbombten Hochhaus zum Tanzen zu bringen. Wesentlich auf der Tonspur spielt auch ein nächtlicher Luftangriff (der einzige im Film) mit Sirenengeheul und Lautsprecherdurchsagen, während die Kamera starr bei einer Reihe von Straßenbäumen verharrt.
Zurückhaltend ist die zum Teil von Neymann selbst geführte Kamera auch gegenüber den Hässlichkeiten vor dem Krieg verbrochener architektonischer Stadtzerstörung, die diskret ausgeklammert werden. Das letzte Wort hat aber der Junge vom Anfang, diesmal mit seinem Vater auf einer anderen altmodisch dekorativ gestalteten Bank am Meer. Ein wunderbarer Traum gehe in Erfüllung, flüstert er ihm ins Ohr, wenn »die Nebel vergehen und dann der Schnee, wenn es über dem Meer blitzt«. Und dann kommen wirklich Donner und Blitze über die Stadt – diesmal von einem Gewitter.




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