Kritik zu Untimely

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Im Affekt: in seinem Debütfilm verwebt der iranische Regisseur Pouya Eshtehardis Vergangenheit, Gegenwart und Traum zu einer bildgewaltigen Coming-of-Age-Geschichte

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Es dauert, bis man versteht, wo genau man sich in Pouya Eshtehardis Debüt gerade befindet. Vergangenheit, Gegenwart, und Traum fließen in »Untimely« ineinander, verweben sich zu einem psychoanalytischen Bilderstrom, in dem sich das Innere des Protagonisten Hamin (Iman Afshar) manifestiert. Es ist ein Strom voll visueller Reize, betörend, poetisch, ein Kreislauf auch der Elemente: das Meer, das auf die Küste kracht, die rostig leuchtende Erde der wie spitze Zähne in den Himmel ragenden Bergformationen und das Feuer, das an den Zigaretten leckt und in einer verstörenden, hypnotischen Szene voller Extase regelrecht verspeist wird. 

Zu Beginn sind wir mit dem jungen Hamin im wilden Meer, unter Wasser, über Wasser, ein Kampf gegen die Wucht der Natur, der an einem Strand endet. Jahre später, in der eigentlichen Rahmenhandlung, arbeitet Hamin als Soldat. Ein Konflikt steht im Raum, absurd eigentlich: Weil der Gefreite während des Dienstes geraucht hat, verwehrt der Kommandant ihm den Urlaub, in dem er der Hochzeit seiner Schwester Mahin beiwohnen wollte. Auf einem Wachturm schließlich, ein rostig an einer Klippe im Niemandsland zwischen Iran und Pakistan stehendes Teil, schubst Hamin seinen Vorgesetzten im Affekt in den Tod.

Der verzweifelte Hamin versucht, die Leiche verschwinden zu lassen, und der Film versetzt sich hinein in seinen Helden: in seine von Demütigungen und Nöten gezeichnete Kindheit mit der Schwester Mahin, die er mit einem knatternden Motorrad einmal vor einen gewaltigen Eisentor zurücklässt; hinein in einen Raum, im dem die Ehe von Mahin ausgehandelt wird und zwischendurch zu psychedelisch gefilmten, religiösen Ritualen. Es deutet sich an, dass der Vater, ein Schmuggler, in Pakistan verschwunden ist und dass die Mutter Selbstmord begangen hat.

Der 1984 in Teheran geborene Regisseur überantwortet die Psychologie den Bildern, durch die sich seine nur grob angerissenen Figuren bewegen. Seine audiovisuelle Verspieltheit geht manchmal mit ihm durch, doch sind die Bilder dieses Debütfilms weder selbstverliebt noch eindimensional. Vielmehr manifestiert sich in ihnen über die sportliche Spielzeit von 78 Minuten eine tragische Coming-of-Age-Geschichte um Geschwisterliebe und Schuld. Ohne explizit auszuformuliert zu werden, schwingen in »Untimely« auch gesellschaftskritische Fragen mit: archaische Rollenbilder, Armut, hierarchische Willkür.  

Im von Repressalien gebeutelten aber auch angefeuerten iranischen Kino steckt Eshtehardi ein eigenes Terrain ab. Neben etablierten iranischen Regisseuren wie Mohammad Rasoulof und Jafar Panahi, die mit ihren ohne Dreherlaubnis entstandenen Filmen das System anprangern, ersterer mit filmischer Austerität und kühl kalkulierter Suspense, letzterer gerne semidokumentarisch, zelebriert Eshtehardi ein avantgardistisch angehauchtes Kunstkino. Auch holt er mit seinem im südlichen Iran am Golf von Oman entstandenen Film ein Stück Land außerhalb der oft gezeigten iranischen Metropolregionen auf die Leinwand. Ein eigensinniges Debüt.

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