Kritik zu Sterben

© Wild Bunch

Kaputte Körper im Alter, unkaputtbare Frauenfiguren, dysfunktionale Familien und ein sympathischer Lars Eidinger: Matthias Glasner riskiert viel und erschafft einen fast grandiosen Film, bei dem er nur manchmal die Balance verliert

Bewertung: 4
Leserbewertung
0
Noch keine Bewertungen vorhanden

Es besteht ein schmaler Grat zwischen der kreativen Vision, mit der Künstler*innen kreativ ihr Innerstes nach außen vermitteln wollen, und dem, was einem Publikum zuzumuten ist. Wer kompromisslos sein Ding durchzieht, geht das Risiko ein, nicht verstanden zu werden. Biedert man sich zu sehr an den Mainstream an, kippt die emotionale Botschaft schnell in Kitsch. So erklärt es sinngemäß der von Selbstzweifeln geplagte Komponist Bernard (Robert Gwisdek) an einer Stelle in Matthias Glasners »Sterben«. Es passt zur feinen Selbstironie des Films, dass dieser den beschriebenen Balanceakt selbst nicht durchgehend meistert. 

»Sterben«, nach »Der freie Wille« (2006) und »Gnade« (2012) Glasners dritte Einladung in den Wettbewerb der Berlinale, wurde 2024 für sein Drehbuch mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. In 180 Minuten und sechs Kapiteln taucht der Film ein in die dysfunktionale Dynamik der Familie Lunies: Lissy Lunies (phänomenal runtergerockt: Corinna Harfouch) ist von Diabetes, Nierenversagen und Krebs gezeichnet, allein ihr Verstand ist ebenso klar wie kalt. Ihr Mann Gerd – körperlich kaum fitter, geistig komplett abgetreten – ist ihr nur noch eine Last. Sohn Tom (Lars Eidinger) lebt als recht erfolgreicher Dirigent in Berlin. Mit seiner Ex-Freundin Liv (Anna Bederke) zieht er das Kind eines anderen groß, weil Liv den Erzeuger nicht leiden kann. Neben diesem vertrackten Co-Parenting-Dreier kümmert er sich um seinen Freund Bernard. Der ist zwar genial, aber seit 20 Jahren unglücklich bis suizidal. Toms Schwester Ellen (Lilith Stangenberg) hangelt sich entschieden selbstzerstörerisch von Vollrausch zu Vollrausch nach dem Motto »Morgens scheiße, abends wieder gut« und beginnt eine Affäre mit dem verheirateten Zahnarzt Sebastian (Roland Zehrfeld). 

»Nicht alle Menschen haben das Talent zum Glücklichsein«, bemerkt Tom irgendwann. Wenn es darum geht, unglücklich zu sein, verfügen Glasners Figuren aber über eine regelrechte Inselbegabung. Dennoch durchzieht »Sterben« ein herrlich makaberer, bisweilen bitterböser bis brachialer Humor. Wenn Tom und seine Mutter am Küchentisch einander erst versehentlich, dann mit voller Absicht an den Kopf knallen, einander nie wirklich gemocht zu haben, ist das große Schauspielkunst. 

Es gibt einige dieser grandios beiläufigen, überzogenen und doch wahrhaftigen Szenen, die das glänzend besetzte Ensemble lakonisch trägt. Vor allem Lars Eidinger ist als ewig gleich- und gutmütiger Tom erfrischend gegen den Strich besetzt. Zwar ist er auch hier nicht der Sympathieträger – denn davon gibt es im Film keinen einzigen – er bleibt aber der Ruhepol der Handlung. Robert Gwisdek (»3 Tage in Quiberon« und auch bekannt als Musiker Käptn Peng) ist als sinnierend-melancholisches Genie genauso perfekt besetzt wie Harfouch, die eine nur äußerlich gebrechliche Harpie gibt. 

In der Überzeichnung unglaubwürdig gerät nur der Teil aus Sicht von Toms Schwester Ellen, was nicht am Spiel von Lilith Stangenberg liegt. Obwohl die ständig zerzauste Mähne, die ihr in jeder Szene im Gesicht hängt, wenig von ihrer Mimik preis gibt. Ellens selbstzerstörerische Art ist von der ersten Einstellung an so übertrieben, als wäre sie eine Art Anti-Superheldin. Sie wirkt zu unkaputtbar, um wirklich zu berühren. Wo das Altern in all seinen unerquicklichen Körperfunktionsaussetzern selten so ehrlich wie in »Sterben« bei Vater und Mutter Lunies gezeigt wurde, eskaliert einer von Ellens Auftritten in splattrigem Dentistenhorror. Die exzessive Frau, die frei vögelt und säuft, ist mittlerweile zu einer Männerfantasie von weiblicher Emanzipation mutiert.

Insgesamt beweist Glasner aber mit seinen Überzeichnungen Mut zum Risiko. Er marschiert derart furchtlos auf den eingangs skizzierten schmalen Grat zu, dass er manchmal ins Straucheln gerät. Gerade diese Ausrutscher machen »Sterben« zu einem besonderen Film, der viel über den Tod und alles, was bis dahin passieren kann und sich so simpel Leben schimpft, erzählt.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt