Kritik zu Sorry, Baby
Mit Melancholie und subtilem Humor erzählt Eva Victors Regiedebüt von den Nachwirkungen eines sexuellen Übergriffs
Im Englischen spricht man von Personen, die einen sexuellen Übergriff erlitten haben, als »Survivors«, Überlebende. Das klingt im ersten Moment vielleicht etwas dramatisch, bringt die Sache aber auf den Punkt: Ein sexueller Übergriff ist ausnahmslos immer eine Attacke, die einen versehrt zurücklässt, und in ihrem Regiedebüt »Sorry, Baby« zeigt Eva Victor auf eindringliche Weise, wie viel Kraft es kostet, nach einem solchen Angriff auf Körper, Seele und Selbstbestimmung weiterzumachen – nicht »wie bisher«, sondern irgendwie.
Im Mittelpunkt steht eine begabte Literaturstudentin namens Agnes, gespielt von Victor selbst, die eine Hochschule im ländlichen Massachusetts besucht. Sie lebt in einer WG mit ihrer besten Freundin Lydie, schreibt an ihrer Doktorarbeit und spielt mit dem Gedanken, ein Techtelmechtel mit ihrem attraktiven, allseits beliebten Doktorvater zu beginnen. Als dieser sie für eine Besprechung zu sich nach Hause einlädt, mündet eine zunächst einvernehmliche körperliche Annäherung in einen Vergewaltigungsversuch (oder ist es eine »vollendete« Vergewaltigung? Auch solche Fragen wirft »Sorry, Baby« auf). Der Film zeigt den Übergriff nicht, sondern in einem klugen Kunstgriff überlässt Victor dem Zuschauer die Vorstellung, was sich während des Treffens abspielt, während die Kamera auf der Straße vor dem Haus verweilt. Später werden die Ereignisse von Agnes in einem ruhigen, bei aller Gewissheit aber auch von Selbstzweifeln durchdrungenen Monolog geschildert – allein diese intensive Szene, in der sie sich ihrer Freundin Lydie anvertraut, ist ein kleines Meisterstück in Sachen zurückgenommener Dramatik und schauspielerischem Understatement.
Wie überhaupt eine Stärke des Films in der stillen Intensität liegt, mit der er pointierte Schlaglichter auf Agnes' »Überleben« wirft und dabei typische Situationen auf intelligente Weise variiert. So wird die Tat zwar gewissermaßen vor Gericht »verhandelt« und später kommt es zu einer Art therapeutischer Aussprache (mit John Carroll Lynch in einem wundervollen Ein-Szenen-Auftritt) – jedoch ist beides fernab der üblichen Konventionen gestaltet. Zugleich gelingt es Victor, das ernste Thema mit Momenten feinen Humors und sogar einem Hauch Romantik zu verflechten, zum Beispiel wenn Agnes eine Affäre mit ihrem Nachbar (exzellent: Lucas Hedges) beginnt.
Ein weiterer kluger Kniff besteht darin, die Geschichte nicht chronologisch zu erzählen. In vier Kapiteln (und einem Epilog) schildert »Sorry, Baby« markante Situationen aus Agnes' Leben vor und nach der Tat. Zu Beginn bleibt manches rätselhaft und sperrig, im ersten Kapitel könnte man sich in einem etwas enervierenden Porträt prätentiöser Ostküstenintellektueller wähnen – Agnes liest Nabokov, die Afroamerikanerin Lydie natürlich James Baldwin. Doch beiläufige Anspielungen deuten auf emotionale Untiefen hin, man spürt ein Unbehagen und ahnt, dass hier gegen einen ungreifbaren Widerstand eine »Normalität« versucht wird.
Das Verschieben der Zeitebenen verleiht der Erzählung aber nicht nur Spannung, sondern macht auch deutlich, dass das Leben für die Menschen in Agnes' Umfeld weitergeht, während sie selbst in ihrem stabilen Edward-Hopper-Holzhaus, das zusehends wie eine einsame Festung wirkt, auf der Stelle tritt; die statischen Bildkompositionen von Kamerafrau Mia Cioffi Henry untermauern diesen Eindruck. Agnes' Uni-Karriere geht voran, doch der Übergriff bleibt auch nach Jahren ein bestimmendes Ereignis. Eva Victor inszeniert und spielt das nicht bitter, sondern mit schwarzhumoriger Traurigkeit. In gewisser Weise ist »Sorry, Baby« mit seiner naturalistischen Melancholie ein Gegenstück zum kämpferisch stilisierten Me-too-Drama »Promising Young Woman«. Victors Ansatz ist nicht der eines zornigen Pamphlets, sondern der einer sensiblen Zustandsbeschreibung. Böse Dinge widerfahren unweigerlich jedem Menschen, resümiert Agnes am Ende. In diesem Moment erschließt sich auch der Titel des Films. »Sorry, Baby, wir müssen damit leben« – ob das nach Resignation oder Aufbruch klingt, dürfte im Auge des Betrachters liegen.




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