Kritik zu Nostalgia

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Mario Martone ist nicht nur ein gefeierter Theater- und Opern­regisseur, auch als Filmregisseur verfolgt er vielfältige Interessen. Aber im Zentrum seines filmischen Kosmos steht stets Neapel. ­Diesmal erzählt er von einer ­späten Rückkehr in seine Heimatstadt, in der verlorene und gefundene Freundschaften spannungsvoll kollidieren

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Der Titel seines Films gibt der Erinnerung einen Namen, aber Mario Martone behauptet damit noch nicht, ihr Wesen ergründen zu können. Sie folgt nicht den Wegen, welche die Figuren ihr gern vorbestimmen würden. Einmal bricht sie über Felice, der nach 40 Jahren im Exil seine Heimat mit den wachen Augen eines Entwurzelten erkundet, gar aus der Gegenrichtung herein.

Am Nebentisch eines Cafés sitzt ein älterer Herr, der ihn nach all den Jahren erkennt. Er stellt sich als ehemaliger Stofflieferant seiner Mutter vor, die als Näherin arbeitete und deren Schönheit und Eleganz er bewunderte. Er kann nicht glauben, dass sein Name dem wiedergefundenen Felice nichts sagt. Dabei war dieser Raffaelle unsterblich in dessen Mutter verliebt – er hätte gern die Vaterrolle eingenommen und den Jungen beschützt. Er fleht ihn an: »Warum erinnerst du dich nicht an mich?«

Felice (Pierfrancesco Favino) ist erschüttert, wie lebhaft die Vergangenheit plötzlich in sein Leben drängt. Zugleich ist er froh, unversehens ein Bindeglied zu ihr und überdies einen väterlichen Freund gefunden zu haben. Insgeheim erzählt »Nostalgia« eingangs von einer glücklichen Regression. Nach vier Jahrzehnten, die er im Libanon, in Südafrika und zuletzt in Ägypten als erfolgreicher Bauunternehmer verbrachte und in denen er zum Islam konvertierte, kann Felice wieder Sohn sein und sich um die gebrechliche Teresa kümmern. Seine Frau, die in Kairo geblieben ist, ermutigte ihn dazu; er lässt sie aus der Ferne teilhaben an den Entdeckungen, die er in den Gassen seines alten Viertels Sanità macht. Zärtlich pflegt dieser Bär von einem Mann die zierliche Greisin, über deren Lippen kein Wort des Vorwurfs kommt. Die Wiedersehensfreude ist tief, die zwei holen viel nach, aber ihnen bleibt nur eine kurze Frist. Nach dem Tod der Mutter könnte Felice heimkehren, aber eine weitere Rechnung aus seiner Vergangenheit muss noch beglichen werden. Er muss den Jugendfreund Oreste wiederfinden, mit dem zusammen er einst viel Unruhe stiftete in Sanità.

Alle Welt rät ihm von der Suche ab, denn der verlorene Freund ist inzwischen zum Boss der hiesigen Cosa Nostra aufgestiegen. Seine Macht scheint unangefochten, nur der furchtlose Priester Don Luigi (Francesco Di Leva) macht sie ihm streitig. Als Felice dem Priester nach der Trauerfeier für seine Mutter dankt, bahnt sich eine Kameradschaft zwischen ihnen an. Beide fassen Vertrauen zueinander. Felice gesteht ihm, dass er damals Komplize eines Einbruchs war, bei dem Oreste den Hausherrn erschlug. Das Beichtgeheimnis gilt zwar nicht, aber der Pater gibt ihm sein Ehrenwort, das Geheimnis zu wahren. Damals hat Felice seinen Freund nicht verraten und kann es auch jetzt nicht. Der Seelenhirte respektiert seinen Stolz, behält aber im Hinterkopf, dass er ein wichtiger Belastungszeuge werden könnte. Felice ist nicht mehr nur zwischen zwei Heimatländern zerrissen, er steht auch zwischen zwei Lagern.

Mit Don Luigi tritt eine andere Dynamik in den Film ein. Die Nostalgie hatte ihre Zeit, jetzt kann es um Aufbruch gehen. Der raffinierte Menschenfischer stellt von nun an Felice unter seinen Schutz – und da sein Wort im Viertel gilt, überträgt sich dieses Mandat auch auf alle anderen Bewohner, die guten Willens sind. 

Felice lässt sich einspannen für die Strategie des Paters, der ihn als Vorbild präsentiert für den anderen Weg, den es aus der Armut gibt. Sein Blick auf die alte Heimat ist auf die Zukunft gerichtet: auf die Rolle, die er jetzt in diesem Gemeinwesen spielen kann. Er kauft ein Haus, das er für sich und seine Frau renoviert, und unterstützt die Restaurierung der historischen Katakomben, in denen er als Kind spielte. Auch seine Arabischkenntnisse sind von Nutzen.

Jetzt ist er gerüstet für die Wiederbegegnung mit Oreste (Tommaso Ragno). Er trifft auf einen Mann, der ihm nicht in die Augen blicken kann: Oreste hat die Kränkung nie verwunden, dass der Freund ihn damals zurückließ. Jede seiner Gebärden stellt eine Drohung dar, die sich aus Verbitterung und Lebensverachtung speist. Vergangenheit und Gegenwart, die sich in der Montage bisher flink begegneten, müssen nicht mehr versöhnt werden. Denn Felice ist weiter als seine Nemesis. Er ist ein anderer Mensch geworden. Nach allem, was während seiner Rückkehr geschah, ist in ihm eine Zuversicht gereift, die in der Erkenntnis von Heimat ruht. Diese erworbene, verdiente Naivität macht sich Martones Film zu eigen. Er wirkt leichtfüßig in seinem Schlussteil, ist aber nicht arglos. Er bangt mit Felice – und er bangt um ihn.

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