Kritik zu May December

© Wild Bunch

Todd Haynes erzählt inspiriert von einem wahren Fall vom langen Nachhall eines Missbrauchs. Dass es hier eine 34-jährige Frau ist, die einen 13-Jährigen ­verführte, macht nur auf den ersten Blick die Abgrenzung von Opfern und Tätern undeutlicher. Durch die Figur einer Schauspielerin, die den Fall für eine Rolle recherchiert, zieht Haynes noch eine Ebene der Ausbeutung ein

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Todd Haynes und Julianne Moore sind ein Traumpaar des Arthousekinos. Was der US-Regisseur und die Schauspielerin (beide sind 63) in die Hand nehmen, verwandelt sich in Gold. Nach »Safe« (1995) und »Far from Heaven (Dem Himmel so fern, 2002) hat Haynes jetzt zum dritten Mal mit Moore zusammengearbeitet. Für die Filme »Safe« und »Far from Heaven«, in denen Moore zerbrechliche, an der Umwelt oder an gesellschaftlichen Konventionen leidende Frauen verkörperte, entwickelte Haynes selbst die Drehbücher. »May December« hingegen stammt nun aus der Feder von Samy Burch. 

Sie hat sich von einem spektakulären Gerichtsfall inspirieren lassen. Mary Kay LeTourneau, eine verheiratete Grundschullehrerin und Mutter von vier Kindern aus Seattle, verführte 1996 im Alter von 34 Jahren ihren damals zwölfjährigen Schüler Vili Fualaau. Bereits schwanger von Fualaau, wurde sie zu drei Monaten Haft verurteilt. Als sie nach der Entlassung gegen ein auferlegtes Kontaktverbot verstieß, verurteilte das Gericht die Sexualstraftäterin 1997 erneut. 2004 wurde sie auf Bewährung freigelassen. Im Jahr darauf heirateten LeTourneau und Fualaau und lebten mit ihren mittlerweile zwei Töchtern als Familie. LeTourneau starb 2020 an Krebs. Ihr Mann hat das »May December«-Skript von Burch öffentlich als respektlos kritisiert, weil er bei der Entstehung des Filmstoffes nicht konsultiert worden sei.

Burch verortet das Geschehen in Savannah im US-Staat Georgia und versetzt es zeitlich in die 1980er und 1990er Jahre. Dafür steht eine verrauscht wirkende Bildqualität, die historische Patina vermittelt und dem Fall einen passenden Rahmen bietet: Nichts ist hier auf den ersten Blick eindeutig, die Faktenlage erscheint verschwommen, vieles bleibt zunächst an der Oberfläche, ungesagt, verdrängt und verschwiegen. 

Moore spielt Gracie Atherton-Yoo. In den 1980er Jahren begann sie eine Affäre mit dem 13-jährigen Joe. Mehr als 20 Jahre später leben Joe (Charles Melton) und Gracie in einer scheinbar perfekten Vorstadtidylle mit drei fast erwachsenen Kindern. Anonym versendete Postsendungen mit Exkrementen darin erinnern jedoch regelmäßig an den früheren Skandal. Natalie Portman tritt als TV-Star Elizabeth Berry auf, die vor Ort für einen Film über Gracies Leben recherchieren will. Sie ist gekommen, um Gracie zu erleben und zu verstehen, damit sie als ihr Fernseh-Alter-Ego eine komplexe Geschichte von Missbrauch, Trauma – und Liebe – erzählen kann. 

Christopher Blauvelts Kamera nimmt eine tastende Exposition auf, die Figuren und die Motive des Films gewinnen erst allmählich feste Konturen. Der Ton ist zu Beginn beiläufig, fast schon nüchtern wie in einem Dokumentarfilm. Vokabeln wie Schuld und Scham, Zweifel und Reue füllen die kommunikativen Hohlräume schnell mit Spannung und Intensität. Haynes inszeniert keine dramatisch vorwärtsdrängende Handlung, sondern kammerspielhafte Konfrontationen unterschiedlicher Charaktere und Persönlichkeiten: die subtile Anatomie eines Falls.

Moores Gracie hat die Vergangenheit in einem sicheren Raum ihres Bewusstseins abgespeichert, in dem der Missbrauch keine große Sache darstellt: »Ich wurde bei einer Affäre erwischt.« Sie versteckt sich hinter einer Fassade. »Ich bin naiv«, stellt sie einmal fest. »Ich bin selbstsicher«, behauptet sie an anderer Stelle. In Wahrheit hat sich die Wunde, die sie unter anderem sich selbst zugefügt hat, nie geschlossen. Die Vergangenheit – und damit die eigene Schuld – bleibt lebendig, wie sich in einer emotional explosiven Szene mit Joe offenbart, in der Gracie ihrem Mann und dem Publikum einen Blick in ihre geschundene Seele gewährt. Die mit dem Instinkt einer Jägerin ausgestattete Elizabeth, die sich auch neugierig mit Gracies Ex-Ehemann und den (psychisch beschädigten) Kindern aus erster Ehe beschäftigt, provoziert mit ihrem investigativem Interesse heftige Reaktionen. Ist für Elizabeth nicht alles, was sie hört, und jeder, der ihr begegnet, willkommenes Material für das geplante TV-Drama? Gracie verliert die Fassung: »This isn't a story. This is my fucking life.« 

Moore und Portman spielen auf fabelhafte Weise die gegensätzlichen Züge ihrer Figuren aus – und gespenstisch anmutende Gemeinsamkeiten. Mal stoßen die Frauen einander ab, mal scheinen sie regelrecht eins zu werden. Haynes musste unweigerlich an Ingmar Bergmans Film »Persona« aus dem Jahr 1966 denken, als er Burchs Drehbuch las. Es erinnerte ihn an »die Paarung dieser beiden weiblichen Hauptfiguren, von denen eine auch in »Persona« eine Schauspielerin ist, und die Verschmelzung der beiden weiblichen Subjekte«. Von Bergmans Film ist »May December« allerdings dank einer immer wieder wirksamen düster-absurden Komik weit entfernt. 

Portman hat unter dem Star-Glamour von Elizabeth grausame Impulse und eine bizarre Lust am Rollenspiel versteckt. Gracies Manierismen zum Beispiel macht sie sich virtuos zu eigen. Im Lagerraum einer Tierhandlung, in dem Gracie und Joe das erste Mal Sex hatten, simuliert Elizabeth in mehreren Positionen den Vorgang. Mit Joe, einem sanften jungen Mann mit koreanischen Wurzeln und einem großen Herz für Monarchfalter, erscheint Elizabeth zunächst als personifizierte Empathie, dann als routinierte Verführerin. Ihr Erkenntnishunger kennt keine Grenzen: Wie fühlt sich Sex mit dem Missbrauchsopfer an? Charles Melton als Joe begegnet Moore und Portman auf Augenhöhe. Er zeichnet das widersprüchliche Bild eines Mannes, der sensibel, selbstsicher, in sich ruhend und glücklich wirkt, dann wieder zerrissen, ruhelos und zweifelnd. Ein Mann in der Lebenskrise.

Der Film endet mit einem grandiosen Monolog von Natalie Portman in der TV-Rolle der Gracie. Es ist für den Regisseur ein zentraler, wenn nicht der zentrale Moment des Films: »Wenn es eine Sache gab, die ich im Drehbuch gelesen habe, bei der ich wusste, dass ich diesen Film machen muss, dann war es diese Szene.« Sie ist umwerfend.

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