Kritik zu Half Nelson

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In den USA wurde es bereits vor zwei Jahren als große Ent­deckung gefeiert, nun kommt Ryan Flecks verhaltenes Drama über einen idealistischen, aber cracksüchtigen Lehrer endlich auch bei uns ins Kino

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Alle paar Jahre bringt das amerikanische Independentkino einen Film hervor, der sich wohltuend von all dem abhebt, was das Sundance Institute, Miramax, Warner Independent Pictures und andere Sub-Majors heutzutage als Arthouse deklarieren. »George Washington«, das Regiedebüt von David Gordon Green war so ein Film; Keane von Lodge H. Kerrigan ein anderer – Filme, die einen von der ersten Minute an buchstäblich gefangen nehmen. Die sich bei aller Genauigkeit in der Beobachtung ihrer Figuren und der wohlüberlegten Lakonie der Bildsprache eine Spur Unberechenbarkeit bewahrt haben und darüber zu einem bittersüßen Pessimismus finden, den sich heute selbst Indiefilme scheinbar kaum noch leisten wollen. Die Besonderheit solcher Filme liegt in ihrer Lebensnähe, die sie niemals in die Pflicht nimmt, ihre Widersprüche und die kleinen Unartikulierbarkeiten des Alltags ganz aufzulösen. Sie haben außerdem eins gemeinsam: Sie haben es in den letzten Jahren kaum noch in die deutschen Kinos geschafft.

Kein Debütfilm ist in den letzten Jahren mit ähnlich einhelliger Begeisterung aufgenommen worden, dabei ist »Half Nelson« ein reservierter Film, der ohne großes Drama und sozialkritische Message daherkommt. Man steigt in den Film ein, begleitet die Menschen für eine Weile und verlässt irgendwann wieder ihre Leben, die einfach so weiterfließen.

Dan Dunne (Ryan Gosling, für seine Darstellung für einen Oscar nominiert) ist ein idealistischer junger Lehrer an einer Junior High School in Brooklyn. Für die meisten seiner afroamerikanischen Schüler ist die Zukunft bereits vorgezeichnet, und diese wird nicht über die Stadtteilgrenze hinausführen. Aber Dan hält sie mit seinen unkonventionellen Lehrmethoden bei der Stange. Die Geschichte der schwarzen Bürgerrechtsbewegung ist sein Steckenpferd. Zu Hause hat er einen Schrank voller Bücher zu dem Thema – doch für Dan bedeutet die Geschichte mehr als nur Lehrstoff für den Schulunterricht. Geschichte ist Wandel, versucht er seinen Schülern zu verklickern (und klingt dabei ver­dächtig aktuell). Wandel in Form einer Spiralbewegung. Wie er so vor der Klasse steht, witzelnd, mit seinen hochgekrempelten Ärmeln, versteht man sofort, warum er bei seinen Schülern so beliebt ist.

Dans eigenes Leben allerdings führt in einer einzig langen Spiralbewegung nach unten; nach dem Unterricht geht er nach Hause oder zieht sich in die Umkleidekabine der Sporthalle zurück und raucht Crack. Hier findet ihn eines Tages die junge Drey (Shareeka Epps) im Dämmerzustand. Aber statt ihn zu verraten, beginnt sie sich für ihn zu interessieren. Sie beschäftigt die Frage, was ihren Lehrer dazu treibt, sein Leben zu ruinieren. Dreys Bruder Mike sitzt eine Haftstrafe wegen Dealens ab; Drogen waren in ihrem Leben nie weit. Diese Erfahrung hat das Mädchen geprägt. Hinter dem ernsten Blick Shareeka Epps' kommt in manchen Momenten eine kluge Sanftheit zum Vorschein, die ihrem Alter so überhaupt nicht zu entsprechen scheint. Nur wenn sie lacht, verwandelt sie sich wieder in ein Kind. Das wahre Kind aber ist Dan, den die alten Dämonen langsam einholen. Als seine Exfreundin Rachel, mit der ihn eine wilde Drogenvergangenheit verbindet, wieder in sein Leben platzt, muss er erkennen, dass er seinen eigenen Lehren nicht gewachsen ist. Rachel ist lange clean und steht kurz davor zu heiraten, während Dan sich aus Feigheit immer mehr hinter seinen Schülern versteckt.

Die Konstellation in »Half Nelson« (junger weißer Lehrer und seine unterprevilegierten Schüler) ist so angreifbar für rührseligen Kitsch und Sozialromantik, dass man nur staunen kann, wie sicher Fleck jedes Klischee vermeidet. Niemand hier verfügt über die moralische Hoheit, jeder lebt in seinen eigenen Widersprüchen. Da ist der Dealer Frank (Anthony Mackie), für den Dreys Bruder ins Gefängnis ging. Frank fühlt sich für Drey verantwortlich, sehr zum Missfallen Dans, der das Mädchen gerne aus dem Teufelskreis von Armut, Drogen und Gewalt heraushalten möchte. Im Zwiegespräch mit Frank wird Dan mit seinen eigenen Vorurteilen konfrontiert. Es bleibt eine soziale Schranke zwischen ihm und seinen Schülern, an der auch die richtigen Bücher im Schrank nichts ändern.

Wo Hollywoodfilme wie »Dangerous Minds« den sozialen Verhältnissen noch blauäugig das bürgerliche Bildungsideal entgegenzusetzen versuchen, zeigt Fleck, wie die hehren Ideale schon im Privaten an den eigenen Ansprüchen scheitern. Doch immer bleiben seine Protagonisten so unerschütterlich, wie es die Umstände gerade noch zulassen. Das macht »Half Nelson« zu einem Feel-Good-Movie der besonderen Art. Die Unzulänglichkeiten der Menschen, ihr zäher Lernwille, die kleinen Siege, die sie trotz allem davontragen, nehmen bei dem bisschen nackten Leben, das ihnen bleibt, geradezu heroische Ausmaße an. Es gibt keine sympathischen Loser in »Half Nelson«. Nur tapfere Alltagskämpfer, die bereits ahnen, dass sich ihre Vorbestimmung nicht mit ihren Träumen deckt.

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