Kritik zu Geliebtes Leben

© Senator

Eine Krankheit, die niemand beim Namen nennen will, obwohl sie längst das Leben aller bestimmt: Oliver Schmitz hat den Jugendroman über afrikanische Aids-Waisen »Worüber keiner spricht« verfilmt

Bewertung: 4
Leserbewertung
0
Noch keine Bewertungen vorhanden

Der als Sohn deutscher Einwanderer in Südafrika geborene, heute in Berlin lebende Oliver Schmitz ist bei uns durch seine Arbeit fürs Fernsehen bekannt geworden. Er hat bei Serien wie »Doctor's Diary« oder »Türkisch für Anfänger« Regie geführt, für Letztere erhielt er den Grimme-Preis. Weniger vertraut ist man mit seinem Spielfilmdebüt »Mapantsula« von 1988, das in Südafrika entstand und in dem er die Politisierung eines Kleinganoven während der Apartheid schildert. Für seinen aktuellen Film, der das 2004 veröffentlichte Jugendbuch des kanadischen Schriftstellers Allan Stratton »Chanda's Secrets« (deutsch: »Worüber keiner spricht«) adaptiert, reiste der Regisseur mit seinem Team nach Elandsdoorn im Nordosten von Johannesburg – an einen realen Drehort, abweichend von der Literaturvorlage, die Chandas Geschichte in einem fiktiven Staat im südlichen Afrika verankert. Schmitz und die Produzenten des deutsch-südafrikanischen Films, darunter Oliver Stoltz (»Lost Children«), legen Wert auf Authentizität, wollen Stereotype über Afrika vermeiden und doch auch ein internationales Publikum unterhalten.

Rund 800 000 Aids-Waisen soll es in Südafrika geben; Kinder und Jugendliche, die ohne familiäre und soziale Unterstützung auf sich allein gestellt sind. Mit seinem Roman wollte Stratton »der Pandemie ein Gesicht geben«. Aus der 16-jährigen Chanda der Vorlage wird im Film eine Zwölfjährige. Zu Beginn sehen wir, wie sie beim Bestatter einen Sarg für ihre jüngste Schwester aussucht. Anschließend macht sie sich auf, um den Stiefvater zu finden, der dabei ist, das Geld für die Beerdigung in einer Kneipe auf den Kopf zu hauen. Das entschlossene Mädchen nimmt es ihm ab. Auch in Zukunft wird sie sich um alles Weitere kümmern, darunter die beiden jüngeren Geschwister. Die Kindheit ist für sie vorbei.

Zusätzlich erschwert wird Chandas Schicksal durch das allumfassende Schweigegebot: Über Aids wird nicht geredet, niemand nimmt das Wort auch nur in den Mund. Die kleine Sara sei an Grippe gestorben, erzählt man. Der Sohn der Nachbarin soll bei einem Überfall ums Leben gekommen sein. Es ist wichtig die Fassade aufrechtzuerhalten. »Alles ist gut« – der Satz fällt ständig, ein Mantra der Verzweifelten. Die jovialen Nachbarn verschließen mit aufgesetzter Fröhlichkeit die Augen vor der Realität. Abweichungen von diesem Verhaltensmuster erregen Misstrauen. Esther etwa, Chandas beste Freundin, die bereits beide Eltern verloren hat und sich nun für ihren Lebensunterhalt prostituieren muss, wird ausgegrenzt. Nachdem auch Chandas Mutter erkrankt, nimmt die Bürde der Verantwortung für die Zwölfjährige weiter zu. Doch Chanda kämpft.

Dieser Prozess ist als Coming-of-Age-Melodram behutsam in Szene gesetzt; die Kamera bezieht Position, sie bewegt sich auf Augenhöhe mit den jungen Darstellern, die größtenteils zum ersten Mal vor der Kamera stehen. Spektakuläre Effekte sind der Inszenierung fremd, die Realität ist grausam genug.

Was als völlig unaufgeregter Erzählfluss beginnt, verdichtet sich nach und nach zur prägnanten Schilderung der unheimlich klaustrophobischen Atmosphäre in der verschwiegenen Dorfgemeinschaft. Wie um Chandas Isolation visuell zu verstärken, treten Personen als schemenhafte Konturen im Gegenlicht in den Fokus, die kurz Anteil nehmen und wieder verschwinden. Dominant schieben sich dagegen Akteure in den Vordergrund, die versuchen, den Deckel auf der Wahrheit zu halten. Spirituelle Rituale und der Besuch bei einem Quacksalber, zu dem Chanda überredet wird, weisen keinen Ausweg.

Buch und Film sensibilisieren für ein Thema, das es nur noch am Welt-Aids-Tag in die Nachrichten schafft; Lehrer können Unterrichtsmaterial direkt von der Filmwebseite herunterladen. Obwohl Schmitz mit seiner Geschichte ins Zentrum des Problems trifft und Stereotype vermeiden will, fühlt sich nicht jeder von dieser Perspektive repräsentiert: Nachdem Südafrikas Filmverband »Geliebtes Leben« für die Auswahl zum Oscar als »Bester fremdsprachiger Film« nominiert hatte, äußerte der Schriftsteller Don Mattera die Hoffnung, dass in Zukunft Filme berücksichtigt würden, die Südafrikas Geschichte jenseits von Krankheit und Opferrolle erzählten.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt