Kritik zu Ennio Morricone – Der Maestro

© Plaion Pictures

Giuseppe Tornatore besichtigt das Lebenswerk des vor zwei Jahren verstorbenen Komponisten, mit dem er seit »Cinema Paradiso« zusammenarbeitete. Eine Kaskade der Klänge, Bilder und Erinnerungen

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Der Vater war stolz, dass er die Familie mit seiner Trompete ernähren konnte. Mario Morricone trat in Tanzorchestern auf und tauschte sein Instrumente Zeit seines Lebens nie aus. Für seinen Sohn wünschte er sich den gleichen Werdegang. So fing es an, bescheiden und aufrecht.

Ennio studierte am Konservatorium jedoch nicht nur Trompete. Ein Lehrer riet ihm, in die Kompositionsklasse zu wechseln. Das hatte es vorher noch nicht gegeben. Aber in dieser Karriere verlief nichts wie vorgeschrieben. Morricone junior erwarb sich enzyklopädische Kenntnisse der Klassik und entdeckte die Moderne, verdiente sich das Studium tatsächlich in Unterhaltungsorchestern, um sodann als besonnener Zwölftöner zuerst die italienische Popmusik und danach die Filmmusik zu revolutionieren. Als die Lippen des Vaters mit 55 Jahren ihren Dienst versagten, setzte Ennio bis zu dessen Tod in keinem Stück eine Trompete ein.

Diese Reminiszenz gehört zu den seltenen privaten Auskünften, die Giuseppe Tornatore dem Maestro entlockt. Dennoch lernt man ihn in seinem Film gründlich kennen. Sein Schaffen ist persönlich genug: eigensinnig, kühn und wohlüberlegt, schillernd zwischen einer Melodik, die zu Herzen geht und brüsker, weltstürzender Innovation. Tornatore setzt Morricone als einen sorgfältigen Interpreten seiner eigenen künstlerischen Biografie in Szene. Wenn es in diesem Leben einen Konflikt gab, dann lag er in der Kränkung, als Komponist angewandter Musik von den Verfechtern absoluter, mithin seriöser Musik gering geschätzt worden zu sein, allen voran von seinem Lehrmeister Goffredo Petrassi. Dabei löste er selbst diesen Widerspruch souverän, wenngleich nicht mühelos auf.

Die Liste der Zeugen, die seine Legende beglaubigen, ist unvorstellbar lang. Sie umfasst Kollegen wie Quincy Jones und Nicola Piovani, SängerInnen wie Joan Baez und Gino Paoli, Regisseure wie Bernardo Bertolucci und Quentin Tarantino und schließlich Bewunderer wie Bruce Springsteen. Tornatore will nichts auslassen, das entscheidend und bezeichnend ist im Wirken dieses Ausnahmekünstlers. Entsprechend atemlos ist das Tempo seines Films. Er ist nichts für Puristen. Die Musikstücke werden nur angerissen, dann vielstimmig kommentiert und gelegentlich wiederholt. Einzig im Fall von »The Mission« gewinnt man den Eindruck einer gewissen Integralität. 

Aber Morricones Musik widersteht der Fragmentierung. Sie rauscht vorüber und bleibt doch hängen. Tornatore hat ein beinahe ebenso sicheres Gespür für Prägnanz wie der Meister selbst. Die Interviewten geben selten mehr als eine Sentenz von sich. Das reicht überraschend oft. Sie sind lebhaft präsent, namentlich die von Enthusiasmus elektrisierten Taviani-Brüder. Wenn Bertolucci über »Spiel mir das Lied vom Tod« sagt: »Diese Musik hörten wir für den Rest unseres Lebens«, liegt darin ein so erhabenes Pathos, dass man gern Atem holen würde. Der Film drängt weiter. Er gestattet sich Ungeheuerliches. Einmal verteilt er einen einzigen Satz auf gleich mehrere Zeugen. Die Kaskade der Worte, Töne und Bilder ist kein Indiz der Ungeduld, sondern ein unausgesetzter, geistesgegenwärtiger Dialog, so klangvoll und zauberisch wie eine Melodie des Maestro.

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