Kritik zu Der Schein trügt

© Neue Visionen Filmverleih

Srdjan Dragojevic (»Parada«) erzählt in seiner heiteren Gesellschaftssatire von Wundern und Anfechtungen, die sich zu einem Panorama postsozialistischer Verwerfungen verdichten sollen

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Schon beim Auftakt schwant uns nichts Gutes. Gleich zu Beginn sind Kinder zu sehen, die fröhlich ihre Puppen verbrennen. Sie gebärden sich dabei nicht ganz so sadistisch wie ihre Vorläufer in Peckinpahs »The Wild Bunch«. Aber ihr Spiel lässt erahnen, dass auch dies eine Welt ist, in der Ameisen und Skorpione einander ohne Gnade nach dem Leben trachten. 

»Der Schein trügt« setzt 1993 in einem Randbezirk Belgrads ein, wo Elend, Betrug und Missgunst herrschen. Die maßgebliche Währung ist die D-Mark, und wer das öffentliche Bad benutzen will, muss seine eigene Glühbirne mitbringen. Dem geflüchteten Stojan passiert bei dieser Gelegenheit ein Missgeschick: Nach einem Stromschlag trägt er einen Heiligenschein. Das Schandmal will partout nicht verschwinden, so dass seine Frau Rat bei einem dubiosen Fernsehprediger sucht. Er schlägt vor, ihr Gatte solle alle Todsünden begehen, um Gott zu erzürnen. Das fällt einem friedfertigen Kerl wie Stojan nicht leicht, und sieben Mal ist ein heftiges Pensum. Nur mit Mühe entwickelt sich Stojan zu einem Missetäter. Aber dann ist die Verrohung der Sitten besiegelt – und der Tonfall dieser Satire gesetzt. 

Auch in den zwei folgenden Episoden bricht das Übersinnliche brüsk in den postsozialistischen Alltag ein. 2001 verwandelt sich ein zum Tode Verurteilter in einen Säugling, um 2026 als ein glückloser Künstler wiederzukehren, der plötzlich Erfolg hat, weil seine Gemälde den Hunger im Wortsinne stillen. Die drei Segmente mögen visuell in einer je eigenen Welt spielen, aber Darsteller und Figuren tauchen rätselhaft alterslos wieder auf – Stojan, dessen Heiligenschein niemanden mehr stört, macht Karriere als Gefängnisdirektor, dann als hoher Funktionär – und schreiben so, trotz aller politischen Umbrüche, eine mulmige Kontinuität der Verhältnisse fest. Srdjan Dragojevic entfaltet über drei Jahrzehnte ein deftiges Panorama der gesellschaftlichen Verwerfungen in Ex-Jugoslawien. Gelernte Sozialisten mausern sich zu religiösen Eiferern, das Potenzial an Heuchelei und Korruption ist hoch. Die Welt teilt sich sauber in Gewinner und Verlierer auf, die Diskrepanz zwischen Arm und Reich verschärft sich. Der Regisseur hat sich, das ist eine muntere kulturelle Aneignung, von den bürgerlichen Sittenbildern Marcel ­Aymés inspirieren lassen; nicht von einzelnen Novellen, wohl aber von dessen Auffassung des Fantastischen. Diese ist politisch eher unverfänglich, gewinnt in Dragojevics Inszenierung aber surreale Triftigkeit. Dem Wechselspiel von Wunder und Anfechtung entlockt er rabiaten Witz. Das Erschießungskommando etwa hegt keine moralischen Einwände, ein Baby hinzurichten, sondern steht angesichts des winzigen Zieles vor rein logistischen Problemen. Dragojevic teilt in alle Richtungen aus, und sein slapstickhafter Furor trifft nie den Falschen. Seine ­Darsteller nehmen das Mandat, sämtliche Spielarten der Verworfenheit durchzudeklinieren, voller Elan an. Die Bereitschaft, sich von der schlechtesten Seite zu zeigen, ist enorm. Zuweilen blitzt subtiler Witz auf. Dragojevics tragikomische Autopsie der Gesellschaft ist visuell bestrickend und folgenlos.

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