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Aufmerksamkeit für die Schönheit im Schlichten und das Staunenswerte im Beiläufigen: Hans Steinbichler hat Robert Seethalers gleichnamigen Roman über das harte Leben eines letztlich zufriedenen Eigenbrötlers in den Alpen verfilmt
»Schön reden kannst du«, sagt die Magd Marie (Julia Franz Richter) ausgerechnet zum sonst so wortkargen Andreas Egger (in jungen Jahren: Stefan Gorski), als er ihr überschwänglich seine Hütte zeigt, von der er hofft, dass es bald ihr gemeinsames zu Hause wird. Und sie wird Ja sagen, als er sie fragt, ob sie seine Frau werden möchte – auf einer Bergwiese, am gegenüberliegenden Hang leuchtet ihr Anfangsbuchstabe in Flammen auf. Doch Eggers Glück weilt nicht lange. Eine Katastrophe entreißt ihm in der Mitte des Films seine Marie, die er bis ans Lebensende betrauert.
Hans Steinbichler (»Hierankl«) hat sich Robert Seethalers Erfolgsroman »Ein ganzes Leben« angenommen. Es gelingt ihm, den unaufgeregten Geist des Buches auf die Leinwand zu hieven, wobei er auf Experimente verzichtet und nah an der Vorlage bleibt. Wie im Buch zeigt er Eggers Kindheit als schweig- und duldsamer Verdingbub, sein Erwachsenenleben als fleißiger Arbeiter bis hin zu seinem Lebensabend als wunderlicher Alter, der ohne Gram auf sein Leben zurückblickt.
Auf einem Fuhrwerk taucht der kleine Andreas Anfang des 20. Jahrhunderts mit einem Beutel Münzen um den Hals beim Bauern Kranzstocker (Andreas Lust) auf. Der nimmt ihn zwar auf, erzieht ihn aber mit Strenge und Schlägen. Nur die alte Ahnl (Marianne Sägebrecht) geht liebevoll mit Andreas um. Später mietet der heranwachsende Egger beim Wirt (fast zur Unkenntlichkeit maskiert: Robert Stadlober mit Rauschebart) eine Hütte, die er zum Familiendomizil ausbaut. Er heuert trotz Hinkebeins, das er den Prügeln des Kranzstockers zu verdanken hat, selbstbewusst bei der Seilbahnfirma Bittermann & Söhne an (»Am Berg bin ich der Einzige, der gerade geht!«), die die Moderne in das ärmliche Bergdorf bringt. Vor Egger steht eine blühende Zukunft. Aber der Berg hat andere Pläne.
Bitter inszeniert Steinbichler die Bergwelt anfangs, abgeschieden, entbehrungsreich und rau. Die meisten Figuren sind abweisend und verschlossen. Die Sensiblen halten es nicht lange aus zwischen harter Arbeit und menschlicher Kälte. Und je mehr die Menschen vom Berg abverlangen, desto mehr fordert der Berg zurück: Arme und Beine holt er sich, ganze Leben werden vom Eis geschluckt. Jahre später muss Egger für die Nazis in den Kaukasus ziehen, gerät in russische Kriegsgefangenschaft und kehrt zurück in eine Welt, die der Tourismus erobert hat. Staunend, aber unbeteiligt, nimmt er wahr, wie sich die Welt um ihn herum verändert, wie erst Elektrizität, dann Traktoren, Busse und Skifahrer seine Heimat bevölkern. Noch einmal scheint sein Leben im Alter eine Wendung zu nehmen, als sich die Dorflehrerin in den alten Zausel verliebt. Doch Egger (mittlerweile: August Zirner) kann seiner Marie auch Jahrzehnte nach ihrem Tod nicht untreu werden. Manchmal stelle er sich das Leben vor, das sie hätten führen können, schreibt er ihr in einem seiner zahlreichen Briefe an ihr Grab.
Egger ist ein Jedermann. Völlig enträtseln kann der Zuschauer diesen verschlossenen und doch warmherzigen Eigenbrötler nicht. Schon bei seiner Ankunft im Dorf kann sich die Kamera nicht entscheiden, ob sie seinen Hinterkopf fokussiert oder den Blick auf das atemberaubende Bergpanorama freigibt. Für die Zuschauer bleibt ungewiss, ob sie Egger zusehen oder mit seinen Augen in die Welt blicken – anders als im Roman, der konsequent aus Eggers Perspektive geschildert wird. Etwas zu sehr fallen die melancholische Musik und der halb gare Bergdialekt auf, der – wohl um für das Publikum in ganz Deutschland verständlich zu sein – ein Mischmasch aus Österreichisch und Hochdeutsch ist, dadurch aber gestelzt und wenig authentisch wirkt.
Wie schon in Seethalers Roman liegt die Stärke von Steinbichlers Film darin, die Schönheit im Schlichten zu zeigen, das Staunenswerte im Beiläufigen – und wie reich ein Leben sein kann, sei es ein einfaches, das durch wenige einschneidende Ereignisse geprägt wird. »Narben sind wie Jahre«, sagt Egger zu seiner Marie, »da kommt eines zum anderen, und alles zusammen macht erst einen Menschen aus.«