Color-Blind Casting

Schon mal eine Meerjungfrau gesehen?
»Arielle, die Meerjungfrau« (2023). © Disney Enterprises

»Arielle, die Meerjungfrau« (2023). © Disney Enterprises

Disneys Schwarze Arielle hat schon weit vor dem Start des Realfilm-Remakes im Mai heftige Diskussionen ausgelöst. Aber warum eigentlich? Patrick Heidmann über den Trend zu nichttraditionellen Besetzungsentscheidungen

Wer bislang an Arielle, die Meerjungfrau dachte, hatte mutmaßlich eine junge Frau mit roten Haaren, blauen Augen und grünlicher Schwanzflosse im Sinn. Künftig allerdings könnte sich zu diesem Bild, das sich selbstverständlich dem gleichnamigen Zeichentrickfilm aus dem Jahre 1989 verdankt, noch ein weiteres gesellen. Dank des ebenfalls »Arielle, die Meerjungfrau« betitelten Realfilm-Remakes gibt es nun auch eine singende Nixe mit braunen Haaren und ebensolchen Augen. Nur die Schwanzflosse ist geblieben.

Dass Hollywood seine eigenen Geschichten neu verfilmt und entsprechend beliebte Filmfiguren immer mal wieder im neuen Antlitz daherkommen, ist gängige Praxis. Doch weil die neue Arielle von der Schwarzen Sängerin und Schauspielerin Halle Bailey verkörpert wird, ist plötzlich das Aussehen der Protagonistin ein Thema. Oder genauer gesagt: ihre Hautfarbe. Dass Arielle nun nicht mehr rothaarig, aber eben vor allem nicht mehr weiß ist, triggerte bereits Monate vor dem Start des Films (der vor Redaktionsschluss auch für die Presse noch immer nicht zu sehen war) manche vermeintlichen Fans so sehr, dass etwa die Kommentarfunktion unter dem ersten Trailer bei YouTube wegen zu vieler rassistischer Ausfälle deaktiviert wurde.

Gänzlich unerwartet kommen solche Reaktionen natürlich nicht: Dass das Diskussionsklima in unserer Gesellschaft und eben vor allem online heutzutage von Polarisierung, Diskriminierung und Hass geprägt ist, ist hinlänglich bekannt und trauriger Alltag. Gerade was Filme und Serien angeht, hat sich auf Plattformen wie YouTube, IMDb oder Rotten Tomatoes in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt, dass vor allem Produktionen mit weiblichem, queerem oder nichtweißem Personal mit negativen Bewertungen und Kommentaren geflutet werden.

Davon, dass man im Hause Disney wusste, was angesichts von Baileys Arielle-Besetzung zu erwarten sein würde, kann man also ausgehen. Nicht nur deswegen ist der Begriff des »color-blind casting«, der in einem solchen Fall seit Neuestem gern herangezogen wird, nicht wirklich passend. Selbst wenn die Verantwortlichen nicht gezielt nach einer Schwarzen Schauspielerin für die Rolle der Arielle gesucht und tatsächlich »farbenblind« gecastet haben sollten, wird in Zeiten hitzig geführter Diskussionen über Identitätspolitik und Repräsentation die Wahl einer Person of Color für eine bislang als weiß bekannte Figur natürlich immer auch als Statement verstanden. Zumal von einem Konzern wie Disney, wo man sich von Marvel bis »Star Wars« über alle Franchises hinweg seit geraumer Zeit zumindest nach außen offensiv und im eigenen kommerziellen Interesse um mehr Diversität bemüht, natürlich immer mit Blick auf die unterschiedlichsten Zielgruppen.

»Nichttraditionelles Besetzen«, wie innerhalb der Branche inzwischen der bevorzugte Begriff für solche Casting-Entscheidungen lautet, ist längst ein gern genutzter Weg, um ganz gezielt seit Jahrzehnten bestehende und sich auf erdrückende Weise wiederholende Muster aufzubrechen. Und zwar nicht nur was die traditionell von weißen Männern bestimmten Strukturen innerhalb der Branche angeht, sondern auch mit Blick auf die Sehgewohnheiten des Publikums.

Wenn diese Praxis auf reale historische Figuren angewendet wird, sorgen solche Besetzungsentscheidungen für besondere Reibung. Während am Theater, wo das Pu­blikum offenkundig weniger dem Realismus-Gedanken verhaftet ist, bereits seit längerem geschichtliche Korrektheit hintangestellt wird (David Oyelowo etwa war 2000 als Heinrich VI. in einer Produktion der Royal Shakespeare Company zu sehen, als erster Schwarzer Schauspieler überhaupt), sorgte es noch 2018 für viel Gesprächsstoff, als in »Maria Stuart, Königin von Schottland« die asiatisch-stämmige Gemma Chan als Bess of Hardwick und der Schwarze Adrian Lester als Botschafter Lord Randolph zu sehen waren. Ganz zu schweigen vom TV-Dreiteiler »Anne Boleyn« (2021), wo die bis dahin von Schauspielerinnen wie Claire Foy, Natalie Portman oder Vanessa Redgrave gespielte zweite Ehefrau von Henry VIII. von Jodie Turner-Smith verkörpert wurde. 

Dass das Können von Schauspieler*innen für die Verantwortlichen hinter der Kamera im Zweifel wichtiger sein sollte als ihre Hautfarbe, ist dabei natürlich nur ein Aspekt. »Ich finde, dass die Kunst unser Leben heute repräsentieren sollte«, gab Chan anlässlich ihrer Besetzung in »Maria Stuart, Königin von Schottland« zu Protokoll. »Wir zeigen in dem Film das England von damals, aber eben dargestellt durch das England von heute.« Und als sich Armando Iannucci 2019 für seine Dickens-Verfilmung »David Copperfield – Einmal Reichtum und zurück« für Dev Patel als Hauptdarsteller entschied, sagte er im Interview: »Für mich war diese Besetzung unter anderem ein Weg, das Moderne, auch heute noch Relevante dieser wunderbaren Geschichte zu betonen.«

Vielfalt und ein zeitgemäßer Anstrich sind gute Gründe, ein Ensemble mit Schauspieler*innen unterschiedlichster Hautfarben zu bestücken, doch es lassen sich immer wieder auch Erklärungen finden, die sehr wohl historisch verankert sind. Wenn zum Beispiel in der Serie »Bridgerton«, die zugegebenermaßen weniger auf Geschichtsbüchern als auf angelsächsischen Liebesromanen fußt, Königin Charlotte von Golda Rosheuvel gespielt wird, deren Vater aus Guyana stammt, dann ist das nicht einfach eine revisionistische Spielerei. Tatsächlich soll sich, so argumentieren einige Historiker*innen, im Stammbaum der echten Sophie Charlotte von Mecklenburg-Strelitz auch eine portugiesische Adlige afrikanischer Herkunft finden lassen. 

Solche Forschungserkenntnisse mögen durchaus umstritten sein, doch das heißt nicht automatisch, dass die seit Jahrhunderten gängige Darstellung des Personals an europäischen Höfen als ausschließlich weiß unbedingt die richtige ist. Das US-Historiendrama »Chevalier«, das voraussichtlich im Juni in die deutschen Kinos kommen wird, unterstreicht dies recht deutlich: Es erzählt, ausgehend von vielen hinlänglich untermauerten historischen Fakten, die Biografie des im 18. Jahrhundert gefeierten Schwarzen Komponisten und Musikers Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges, dessen Werke aus rassistischen Motiven größtenteils vernichtet wurden. Wenn selbst jemand wie er aus den Geschichtsbüchern weitestgehend getilgt wurde, wie ist es dann in den – natürlich stets von weißen Männern verfassten – Überlieferungen erst anderen, womöglich weniger erfolgreichen People of Color ergangen?

Mit Fakten und realen Vorbildern muss man denjenigen, die sich über Diversität im Casting empören, allerdings ohnehin nicht kommen. Den größten Shitstorm diesbezüglich musste zuletzt schließlich »Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht« über sich ergehen lassen, hatten es die Verantwortlichen doch gewagt, Elb*innen und Zwerg*innen auch mit nichtweißen Darsteller*innen zu besetzen. Dabei sollte man eigentlich meinen, dass gerade für solche Figuren, die nachweislich in der Realität nicht existieren, ein besonderes Maß an künstlerischer Freiheit gilt. Womit wir wieder bei der kleinen Meerjungfrau und dem unbedingten Empörungswillen unserer Zeit wären.

Dass vermeintlich farbenblindes Besetzen in Hollywood letztlich eine lange Tradition mit vielen Facetten hat, wird darüber oft vergessen. Schon in den sechziger Jahren wurde in der Fernsehserie »Batman« Julie Newmar als Catwoman-Darstellerin durch Eartha Kitt abgelöst, obwohl die Figur in den Comicvorlagen damals noch als weiße Frau gezeigt wurde. Manchmal hatte das Ignorieren der Herkunft von Schauspieler*innen eine gewisse Unbedarftheit; man denke an den Ägypter Omar Sharif als russischer »Doktor Schiwago«. Oft hatte es den bitter-unsensiblen Beigeschmack von mutwilliger Ahnungslosigkeit, etwa als die drei Protagonistinnen in der Romanverfilmung »Die Geisha« von Schauspieler*innen aus China (Zhang Ziyi, Gong Li) und Malaysia (Michelle Yeoh) verkörpert wurden. In den meisten Fällen profitierten allerdings weiße Schauspieler*innen, die sich in der Branche ohnehin stets in der privilegiertesten Position befanden: ob nun John Wayne in »Der Eroberer« Dschingis Khan spielte, Elizabeth Taylor »Cleopatra« oder Tilda Swinton in »Doctor Strange« eine Figur, die mal ein tibetischer Mann gewesen war.

Gerade in solchen Fällen vermischen sich Fragen nach »nichttraditionellem Besetzen« mit Fragen nach »authentischem Casting«. Dass heutzutage niemand mehr im Filmgeschäft auf die Idee käme, einen weißen Schauspieler mit schwarz bemaltem Gesicht Othello spielen zu lassen, scheint offensichtlich. Doch wer darf überhaupt welche Rollen spielen? Ist Gal Gadot als Hauptdarstellerin eines angedachten »Cleopatra«-Remakes eine schlechte Idee, weil sie zwar aus dem Nahen Osten stammt, aber eben eine weiße Jüdin ist? Hätte Helen Mirren die Titelrolle im Meir-Biopic »Golda« ablehnen sollen, gerade weil sie keine Jüdin ist? Und ist es wirklich verwerflich, wenn – mindestens von außen gelesen – heterosexuelle Schauspieler wie Brendan Fraser in »The Whale« oder Rami Malek in »Bohemian Rhapsody« queere Figuren verkörpern?

»Dr. Strange« (2016). © Walt Disney

So wenig man in solchen Debatten übereifrig werden sollte, so fatal wäre es, sie als Unfug abzutun und mit Plattitüden à la »Schauspieler*innen müssen alles spielen können« wegzuwischen. In einer idealen Welt wäre dem natürlich so, auch wenn es sicherlich Beispiele dafür gibt, dass Figuren an Tiefe gewinnen, wenn ihre Darsteller*innen authentische Erfahrungen einbringen. Vor allem aber gilt es eben auch, das Potenzial zu nutzen, das dem Casting-Prozess in Sachen Veränderung und Chancengleichheit innewohnt. 

Wenn etwa Russell T Davies seine Serie »It's a Sin« mit ausschließlich queeren Männern besetzt oder – wie vor ein paar Jahren – gefordert wird, Scarlett Johansson möge doch bitte keine Transfrau spielen, dann liegt das in erster Linie daran, dass Trans- oder auch offen homosexuelle Schauspieler*innen noch immer nicht annähernd die gleichen Jobchancen haben wie andere. Nicht zuletzt deswegen sagte etwa Hilary Swank, als sie 2019 beim Festival in Locarno einen Ehrenpreis erhielt, mit Blick auf ihre oscarprämierte Rolle als Transmann in »Boys Don't Cry«: »Wir befinden uns heute an einem vollkommen anderen Zeitpunkt der gesellschaftlichen Debatte, und ich würde mir wünschen, dass heute ein transidenter Mensch die Rolle spielt. Damals wäre das vermutlich nicht möglich gewesen, aber heute ist es wunderbar zu sehen, dass es immer mehr Möglichkeiten für die Trans-Community gibt, vor und hinter der Kamera ihre eigenen Geschichten zu erzählen.«

Dass solche Diskussionen eines Tages vielleicht überflüssig sein werden, weil an allen Fronten Selbstverständlichkeit herrscht, ist natürlich wünschenswert. Bis es so weit ist, könnte anderweitig Abhilfe geschaffen werden. Statt darüber zu streiten, welche Hautfarbe die nächste Disney-Prinzessin haben soll, ob Kostümfilme und Shakespeare-Adaptionen von zu viel weißen Menschen bevölkert werden, wann der erste James Bond im Rollstuhl kommt oder ob Stanley Tucci nicht langsam genug schwule Rollen gespielt hat, wäre es sehr viel aufregender, es gäbe im Film- und Seriengeschäft den Mut, einfach mal von vornherein ganz andere Geschichten zu erzählen. Neue, frische und spannende Stoffe über Figuren, die nicht in der Mehrzahl westliche, weiße Cis-Hetero-Männer ohne Behinderung sind, statt des ewig gleichen Kanons und dauernder Remakes und Fortsetzungen? Davon würden wir alle profitieren.

Meinung zum Thema

Kommentare

Ich gebe Herrn Heidemann recht, dass etwas mehr Gelassenheit bei dem Thema hilfreich wäre. Ich sehe durchaus die Gefahr, dass die Zwänge der Vergangenheit, die jetzt endlich erkannt werden, ins Gegenteil verkehren.
Warum muss sich bei der Umsetzung von historischen Themen die heutige Wirklichkeit wiederspiegeln?
Heute machen wir uns lustig, wenn in der Kunst vergangener Jahrhunderte Sachen, die die Künstler nicht kennen konnten, so darstellten, wie sie sich vorstellten. Dazu konnten sie nur aus ihrer Umgebung Motive wählen.
Aber heute das ganze bewusst so gestalten, da habe ich Probleme. Das ist für mich Verfälschung.
Andererseits habe ich genauso Probleme mit dem Vorfall, als weiße Musikerinnen und Musiker keine Reggae-Musik mehr spielen dürfen sollten.
Da wird überall eine neue Art der Zensur daraus, für mein Gefühl. Das hat mit der Freiheit und Toleranz nichts mehr zu tun.

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