Berlinale: Gegen den Strich

»Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush« (2020). © Pandora Film

Da können die Filme noch so gut sein, den Spitznamen »Omikron-Berlinale« werden diese 72. Internationalen Filmfestspiele von Berlin nicht mehr los. Und das obwohl – oder gerade weil – für den reibungslosen Ablauf der Veranstaltung, die mit 2G+-Regeln stattfindet, so viel getan wird: Kurz vor dem Filmpalast sorgen zu Teststationen umgerüstete Busse dafür, dass auch noch Last-Minute-Besucher Zugang finden. Das Personal für die aufwändigen Kontrollen wurde soweit aufgestockt, dass der übliche Andrang an den Eingängen wegfällt. Die Disziplin des Publikums ist meist vorbildlich. Doch echte Filmfestivalstimmung kommt nicht auf.

An den Filmen liegt es nicht. Das Programm mag zwar weniger Hollywoodstars aufweisen als in anderen Berlinale-Jahren. Aber unter den bislang gezeigten Wettbewerbsbeiträgen gibt es keinen echten Flop. Wem die Eröffnung mit François Ozons Hommage an Rainer Werner Fassbinder, »Peter von Kant«, zu eigenbezüglich-cineastisch war, der fand sich umgehend zufrieden gestellt von Ulrich Seidls Charakterstudie »Rimini«. Darin folgt der österreichische Regisseur mit dem Faible für das Hässlich-Randständige einem abgehalfterten Schlagerfuzzi durch die winterlichen Nebelschwaden der Adriastadt.

Rabiye Kurnaz, die Figur im Mittelpunkt von Andreas Dresens Wettbewerbsbeitrag »Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush« dagegen ist einem von der ersten Szene an sympathisch. Da klopft die türkische, in Bremen lebende Migrantin Anfang Oktober 2001 an das Zimmer ihres Sohnes Murat und will, dass er aufsteht. Sie droht, ihm den großen Bart abzuschneiden, wenn er nicht bald aufmacht, und ruft dann, fast verzweifelt: »Jetzt komm, Essen ist fertig!«. Aber, der kundige Zuschauer weiß es, Murat Kurnaz ist schon auf dem Weg nach Pakistan – wo er bald verhaftet und nach Guantánamo verschleppt wird. Fünf lange Jahre wird die Mutter dafür kämpfen müssen, ihren Sohn endlich wieder an ihren Tisch zu holen.

Dresen hat die wahre, und doch unglaubliche Geschichte von Murat Kurnaz und seiner Mutter als eine Art deutsch-türkische »Erin Brockovich« verfilmt. Die Botschaft ist deutlich: Dresen untermauert die Vorwürfe an die deutsche Regierung, sich nicht genug für den unschuldigen jungen Mann eingesetzt zu haben, der allein deshalb, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war – und den falschen Bart trug – in Verdacht geriet, etwas mit den Anschlägen von 9/11 zu tun zu haben.

Der zweite deutsche Wettbewerbsbeitrag, Nicolette Krebitz' »A E I O U – Das schnelle Alphabet der Liebe« überraschte durch eine rare Eigenschaft im deutschen Film: durch seine Leichtigkeit. Sophie Rois spielt eine gealterte Schauspielerin, die einem Schüler Sprechunterricht erteilen soll. Es stellt sich heraus, dass der noch am Tag zuvor versuchte, ihr die Handtasche zu stehlen. Was die beiden nicht daran hindert, in den folgenden Unterrichtsstunden eine spannungsvolle Nähe zueinander zu entwickeln. Irgendwann überstürzen sich die Dinge, aber wie Krebitz davon erzählt, bleiben sie so folgerichtig wie überraschend.

»A E I O U« erweist sich als ein Film gegen alle Klischees, nichts endet genau so, wie man es sich als Zuschauer am Anfang denkt. Man freundet sich mit Figuren an, für die man vorher kaum Sympathie empfunden hätte. Sogar Udo Kier, Deutschlands Hollywood-Experte fürs Bedrohlich-Skurrile, agiert hier als liebevoller Freund gegen den Strich. An einer Stelle sieht man ihn so herzlich lachen wie vielleicht noch nie in seiner Schauspielkarriere. Und einmal mehr wünscht man die Omikron-Berlinale zum Teufel, bei der solch wunderbare Momente einfach gesamtsituationsbedingt nicht die Würdigung bekommen, die sie verdienen.

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