Wettbewerb: Herrliche Entschleunigung

»Öndög« (2019). © Wang Quan'an

»Öndög« gehört zu den schönsten Filmen in diesem Jahr. Und zu den ruhigsten. Wang Quan'ans 100 Minuten totale Entschleunigung inmitten der mongolischen Steppe sind ein angenehmes Kontrastprogramm zu dem teils eng getakteten Binge-Watch-Marathon des Festivals. Erstmal herunterkommen, herrlich! Mit »Öndög« kehrt der chinesische Drehbuchautor und Regisseur zurück in die Welt von »Tuyas Hochzeit«, mit dem er 2007 den Goldenen Bären gewann.

Was mit einer Leiche beginnt, hat allerdings so gar nichts von einem Krimi. Die tote Frau, die gleich am Anfang von »Öndög« mitten in der Steppe gefunden wird, ist nur der Startpunkt für ein langsames Heranzoomen auf allen Ebenen. Bis zur ersten Nahaufnahme wird es dauern. Zu Beginn fängt Kameramann Aymerick Pilarski das Geschehen in atemberaubendem Cinemascope ein, das die Figuren wie Ameisen in diesen unfassbaren Weiten erscheinen lässt. Ein junger, unerfahrener Polizist soll den Tatort sichern, vor Wölfen und sonst allem, was der Leiche zu nahe kommen könnte. Die arme Socke wird also zurückgelassen mit nichts als dem Hinweis, dass die Hirtin (Dulamjav Enkhtaivan) später mit einem Gewehr vorbeikommt und ihm hilft. Immerhin das! 

»Öndög« (2019). © Wang Quan'an

Die Hirtin kommt dann auch, mit Suppe von einem frisch geschlachteten Lamm, Schnaps, ihrer Büchse und einer Lehrstunde in Sachen Alkohol, Rauchen und Frauen. Sie entpuppt sich schließlich als eigentliche Hauptfigur in dieser Geschichte, die Wang Quan'an mit einem Sinn für Timing und wunderbar trockenem Humor erzählt. Die Frau, von den Leuten »Dinosaurier« genannt, lebt einsam in ihrem Zelt in der Steppe, hat ein paar Tiere und einen Hirten-Nachbarn (Aorigeletu). Wobei »Nachbarschaft« in dieser unendlichen Landschaft weiter gefasst sein muss, denn der Mann fährt jedes Mal mit seinem knatternden Motorrad vor und wirkt nicht so, als wohne er um die Ecke. Die Ruhe des Films ist dabei so einnehmend, dass man fast schon erschrickt, wenn die Maschine erstmals über die Ebene poltert.

Der Nachbar bringt der Hirtin später dann ein Öndög, ein Dinosaurier-Ei, mit. Dass das mehr als ein freundschaftliches Geschenk ein soll, wird schnell klar. Auch die metaphorische Bedeutung dieses prähistorischen Dings liegt auf der Hand, drängt sich aber in keinster Weise auf. Quan'ans hebt niemals intellektuell ab, sondern bleibt, erst fern und schließlich nah, bei den Menschen, beim Weltlichen. Einmal etwa ganz nah beim Sex im Windschatten eines grummelnden Kamels, und am Ende schließlich im Zelt der Hirtin, in dem sich zwei Menschen mit Stirnlampen auf dem Kopf lieben. Eine hermetische Zweisamkeit im Dunkeln der eigenen vier Zeltplanen.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt