Das Gute und das Böse und die imaginären Zahlen

»Der junge Törless« (1966). Quelle: Deutsche Kinemathek © Seitz Filmproduktion

Der deutsche Kulturattaché verließ den Saal: Er demonstrierte offensiv gegen diesen Debütfilm eines gewissen Herrn Volker Schlöndorff, der bei den Cannes-Festspielen uraufgeführt wurde. Denn Bernhard von Tieschowitz hatte etwas begriffen, wovon der Film selbst gar nicht redet und wovon er doch im Eigentlichen redet: »Die Gefahr lag nahe, durch diesen Film unser aus der Vergangenheit so schwer belastetes und ind er Zwischenzeit so mühsam wieder angehobene Ansehen in der Welt erneut zu kompromittieren«, ließ er danach wissen – Bert Rebhandl schreibt darüber im Retro-Begleitband. Tatsächlich ist diese Musil-Verfilmung, irgendwann zu K.u.K.-Zeiten, ein Kommentar zur deutschen Nazivergangenheit, wo ja auch keiner mitmachte, weil alle von oben, vom Führer verführt wurde – so der Konsens noch Mitte der '60er. Schlöndorffs »Der junge Törless« ist so etwas wie »Das weiße Band« in »The Tribe«-Setting.

Eliteinternat. Irgendwo zwischen Studentencorps und Kaserne: Stumpes Lernen; Uniformen; im Gasthaus den Weibern nachschauen; Mitschüler quälen. Mathieu Carrière, zweite Film- und erste Hauptrolle, blickt mit blasiertem Hochmut, gemischt mit tiefer Melancholie, auf seine Mitschüler, die einen Dritten quälen, zum eigenen Vergnügen: Er hatte Geld gestohlen, jetzt ist er ihnen ausgeliefert bei ihren Spielchen auf dem Dachboden. Schlagen, auspeitschen, hypnotisieren und mit Nadeln spicken. Psychoterror. Deutlich angedeutet: Vergewaltigungen. Dazu und daneben der Blick von Törless. Angewidert; zugleich nimmt er die Lampe in die Hand, um besser sehen zu können. Weil er hier, wie er meint und sich einredet, etwas über die menschliche Natur lernen kann. Muss nicht bei solchen Taten – beim Opfer wie bei den Tätern – ein Sprung in der Seele aufscheinen, muss nicht das Bild, das man von sich selbst gemacht hat, zerbrechen?

Überhaupt: Etwas, das es nicht gibt und nicht geben kann – beispielsweise imaginäre Zahlen, die Wurzel aus einem negativen Wert: Wie kann man diese in Berechnungen einbauen, so dass am Ende eine echte Brücke wirklich fest steht? Wie kann man die Welt im Innersten, in seinem eigenen Inneren zusammenhalten, mit unvorstellbaren imaginären Zahlen, mit unvorstellbarem Quälen, unvorstellbaren Qualen, die dann doch nicht den großen Zusammenbruch des Menschen zeitigen? Er ist ein Grübler, der die Dinge philosophisch betrachtet. Ähm, nunja: Das ist natürlich vor allem eine Ausflucht für Törless. Philosophie, Betrachtungen des gedemütigten und des erniedrigenden Menschen sind Alibi für den eigenen sadistischen Voyeurismus. Das aber nur nebenbei, und abseits des Films selbst. Der nämlich schlicht die Banalität des Bösen beschreibt, der Eichmann-Prozess war ja noch nicht so lange her.

Der »hervorragend gestaltete Film« stelle »sehr hohe Anforderungen an die Zuschauer […]«, weist das Gutachten der FSK aus – ebenfalls im Begleitband abgedruckt. »Während man von Jugendlichen fordert, aktiv jedem Unrecht gegenüberzustehen verhält sich Törless angesichtes der Grausamkeiten passiv, er reagiert nicht mit Moral, sondern mit Philosophie«. Der Film wurde ab 18 Jahren freigegeben. In Cannes erhielt er den Kritikerpreis.

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