Retrospektive: Eine literarische Einstimmung

»Der junge Törless« (1966) Quelle: Deutsche Kinemathek © Seitz Filmproduktion

Kurz vor Weihnachten wurde Devid Striesow auf den Boulevardseiten diverser Tageszeitungen dahingehend zitiert, er könne mit Gott und Glaube wenig anfangen: Er sei schlicht mit dem Christentum nicht aufgewachsen. Ähnlich ergeht es mir mit DEFA-Filmen. Als westdeutsches Provinzgewächs bin ich schlicht nicht mit dem DDR-Kino aufgewachsen. Später dann wurden mögliche Begegnungen durch Banalitäten erschwert wie der Tatsache, dass im Kabelnetz der mdr sich erst nach KIKA-Sendeschluss zuschaltete… Kurz: Ich bin gespannt auf die diesjährige Retro: Das Filmschaffen aus BRD und DDR Mitte der 1960er Jahre gegenübergestellt, hie Beginn der »Neuer Deutscher Film«-Aufbruchstimmung, da Abbruchstimmung nach dem 11. Plenum des Zentralkomitees, Stichwort: Kahlschlag auf kulturellem Gebiet, mit Verbot von 12 Spielfilmen und Abwürgen diverser weiterer Projekte.

Ein wenig mag die Retro-Reihe daran kranken, dass im Dezember im Zeughaus-Kino (Abspielstätte auch der Berlinale) bereits eine Rückschau auf die verbotenen DEFA-Filme des Jahres 1966 stattfand: Thematisch nicht nur verwandt, eher gar verschwistert – das Thema liegt eben in der Luft, 50 Jahre nach dem ZK-Plenum: Da liefen eben schon die einschlägigen DDR-Filme, was die Strahlkraft der Berlinale-Retrospektive mindern könnte. Mir als zugereistem Zuschauer aber soll's recht sein.

Konnte ich mich doch ausführlich vorbereiten: Denn nicht nur erschien mit »Deutschland 1966. Filmische Perspektiven in Ost und West« ein reicher Begleitband zur Berlinale-Retro, herausgegeben von Connie Betz, Julia Pattis und Rainer Rother; auch die Zeughaus-Filmreihe kann mit dem von Andreas Kötzting und Ralf Schenk herausgegebenen Band »Verbotene Utopie. Die SED, die DEFA und das 11. Plenum« aufwarten – beide Bücher erschienen im Bertz+Fischer-Verlag.

Paul Hubschmid, Eva Renzi in »Playgirl« (1966) © moviemax

»Verbotene Utopie«, insgesamt 544 Seiten, beinhaltet als Haupttext eine fast 150 Seiten lange Studie des Historikers Andreas Kötzting, der dem Vorfeld, dem Ereignis und dem Nachspiel des 11. ZK-Plenums nachgeht. Nicht nur in Bezug auf die dort verbotenen Filme, auch in Bezug auf die Einschränkungen in der sonstigen Kulturlandschaft, in der Jugendpolitik und in den Wirtschaftsreformen, die Ulbricht damals durchsetzen wollte. Höchst aufschlussreich – zumal auch ein Anhang mit umfassenden Materialien den direkten Blick auf das Damals lenkt.

»Deutschland 1966« stellt diese rigide Geisteshaltung der DDR-Führung mit ihren direkten Auswirkungen auf einen ganzen Spielfilmjahrgang dem Filmschaffen in der BRD gegenüber, das vieles auf Anfang zu setzen versuchte. Wir begegnen dem, was im Osten nicht werden durfte, und dem, was im Westen sein wollte: Nicht nur in präzisen, kenntnisreichen Essays zu den jeweiligen Kinematographien in einem zweigeteilten Land, auch mit beredten Dokumenten: Von Einflussnahme aus Politik und Partei sowie Erklärungsversuchen von DEFA-Seite über Gründungsansprachen der Filmhochschulen in Westberlin und München bis zu einigen FSK-Protokollen zu – beispielsweise – Schlöndorffs »Der junge Törless« oder Trempers »Playgirl«. Eine Gegenüberstellung der damaligen Fernsehkultur, der Dokumentarfilm- und Experimentalfilmszene sowie der Situation weiblicher Filmschaffender – ja, gab's, aber nicht viele – runden den Band ab.

Beide Bücher ergänzen sich; Doppelungen, etwa bei den abgedruckten Materialien, wurden wohlweislich vermieden. Als Vor- oder auch Nachbereitung der Beschäftigung mit dem gesamtdeutschen Kino vor 50 Jahren sind sie auch abseits von Filmreihen oder Retrospektiven durchweg lesenswert.

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