Das israelische Nürnberg
Wenn er gewusst hätte, dass er gefilmt wird, erklärte der überraschte Angeklagte, wäre er in Anzug und Krawatte erschienen. Statt dessen trugt er nun eine Strickjacke. Offenkundig legte Adolf Eichmann großen Wert darauf, während des Prozesses zwischen Privatem und Öffentlichem zu unterscheiden.
Zwanglos ging es auch an diesem Tag nicht zu. Trotz legerer Kleidung wahrte der schmallippige SS-Obersturmbannführer Haltung, als ihm „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais vorgeführt wurde. Eichmann, der dem Prozess sonst mit ungnädigem Gesichtsausdruck folgte, schaut ausgesprochen aufmerksam zu. Die Bilder vom Gräuel der Konzentrationslager sind noch heute kaum zu ertragen, aber Eichmann verrät während der halbstündigen Laufzeit keinerlei innere Regung. Er erfüllt gewissenhaft die Aufgabe, die sich ihm gerade stellt.
Ich habe vor drei Sätzen in den Präsenz gewechselt, weil ich über Filmbilder schreibe. Der amerikanische Dokumentarfilmer Leo T. Hurwitz nahm sie 1961 mit einem israelischen Fernsehteam auf. 48 Jahre später hat Chris. Marker sie, gleichsam als Schuss-Gegenschuss, mit den entsprechenden Augenblicken in „Nacht und Nebel“ synchron montiert. Am vergangenen Donnerstag war diese Arbeit, die in keiner Filmographie auftaucht, im Filmmuseum Potsdam zu entdecken. Thomas Tode, ausgewiesener Spezialist für den Essayfilm im Allgemeinen und Marker im Besondere, führte eindringlich in das Doppelprogramm ein. „Henchman Glance“ (fehlt das Apostroph-S bewusst in Markers Filmtitel?), den der Regisseur am Computer montierte, existiert nur auf einigen DVDs, die er für enge Freunde wie Resnais brannte und ihnen mit der Bitte, sie weiter zu reichen, schenkte. Tode gelangte über den Regieassistenten von „Nacht und Nebel“, André Heinrich, an diese kostbare Rarität. Auch Marker wird im Vorspann als Regieassistent genannt. Tatsächlich war seine Mitwirkung weit umfassender, wie Tode zu berichten wusste. Resnais hatte ihm in einem Interview erzählt, sein Freund habe den Off-Kommentar von Jean Cayrol wesentlich überarbeitet. Weil der Schriftsteller, der als verhaftetes Mitglied der Résistance das Leben und Sterben im KZ aus eigener Anschauung kannte, sich den Film auf keinen Fall im Schneideraum ansehen wollte (auch heute sind zahlreiche Szenen kaum zu ertragen), war der Kommentar nicht auf Resnais' Montage abgestimmt. Marker war es auch, der Hanns Eisler als Komponisten vorschlug. Tode bezeichnete dessen Partitur als sperrig, was ich auch nach diesem Wiedersehen nicht unterschreiben kann. Sie fängt unerwartet harmonisch an. Die Bilder der schlimmsten Gräuel unterlegt Eisler mit beklemmend lyrischen Passagen; die Aufmärsche der Nazis mit listigen Pizzicati und sarkastischen Trommelwirbeln. Dem Schrecken ist eine rätselhafte, nie beschwichtigende Zuversicht abgetrotzt. Mehr über die Entstehung der Musik können Sie in einem Radiofeature erfahren (https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-ueblichen-regeln-gelten-nicht-mehr-hanns-eisler-komponiert-nacht-und-nebel-100.html).
Tode schilderte den Kontext, in dem beide Filme jeweils stehen, ausführlich. Resnais berief sich 1955 auf die Forschungsergebnisse der Historikerin Olga Wormser. Unmittelbar nach dem Krieg wurde die Zahl der Todesopfer nur geschätzt, Wormser jedoch hatte inzwischen das genaue Ausmaß recherchiert. Die Aufführung in Cannes führte bekanntlich zu tiefgreifenden diplomatischen Konflikten zwischen Frankreich und der BRD.
Marker hat „Henchman Glance“ auch als eine Replik auf „Ein Spezialist“ von Eyal Sivan und Rony Braumann gemacht, der auf der Berlinale 1999 für enorme Furore sorgte. Seither ist er in seiner Zwiespältigkeit einigermaßen entlarvt. Sivan nimmt enorme Manipulationen gegenüber dem Originalmaterial vor. Auf die Frage des Chefanklägers beispielsweise, warum ein Zeuge sich gegen die Deportation nicht gewehrt habe, kontert seine Montage mit dem Schweigen eines ganz anderen Zeugen. Suggestiv flicht er Geräusche, darunter einen Lacher, ein. Viele Kritiker werfen ihm seither böswillige, verächtliche Verfälschungen vor und zeihen den israelischen Filmemacher des Anti-Zionismus', der Israelfeindlichkeit. Auf meine eigenen Einwände gegen „Ein Spezialist“ komme ich später zurück.
Marker hingegen respektiert die Chronologie von Hurwitz' Material. Die Timecodes stimmen, wenn seine Montage Eichmann mit „Nacht und Nebel“ konfrontiert. Manchmal variiert dessen Gestik, zwischendrin scheint er etwas schwerer zu atmen. Aber ansonsten ist ihm nicht anzumerken, was in ihm vorgeht. Zunächst vollzieht sich der Dialog zwischen seinem Betrachten und Resnais' Film in einem ruhigen Tempo, später jedoch schneidet er pointierter auf dessen Reaktionen, will genauer wissen, was in besonders eindringlichen, bestürzenden Momenten in ihm vorgeht. Aber Eichmann legt seine Maske nie ab.
Auch Hurwitz war besessen von der Idee, den Angeklagten bei einer emotionalen Regung zu ertappen. Das ist in der BBC-Produktion „The Eichmann Show“ von 2015 zu sehen, in der Anthony LaPaglia den Filmemacher spielt und Martin Freeman seinen Produzenten Fruchtman. Den Originaltitel finde ich reichlich flapsig, bei uns kam der TV-Film als „Der Fall Eichmann – Der Prozess des Jahrhunderts“ heraus; anscheinend aber nicht im Kino. Morgen, am 20. 5., läuft er in Potsdam, und ich kann ihn sehr empfehlen. Er gehört einem kleinen Korpus von Filmen wie „Good Night, and Good Luck“ und „September 5“ an, in dem die Professionalität eines Fernsehteams mit Fragen von humanistischer und politischer Tragweite konfrontiert wird. Regisseur Paul Andrew Williams spielt nicht ganz in dieser Liga, aber er erzählt die faszinierende Geschichte wirklich packend nach.
Hurzwitz steht in den USA auf der Schwarzen Liste, aber in Israel erfährt der Regisseur von „Native Land“ und „Strange Victory“ große Wertschätzung. Dort gibt es 1961 noch gar kein Fernsehen, aber David Ben Gurion stimmt dem Plan zu, damit Juden in der Diaspora den Prozess mitverfolgen können. Allein die Richter müssen noch überzeugt werden, ein Fernsehteam im Gerichtssaal zuzulassen. Toll, wie Hurwitz das Problem löst, in dem er unsichtbare Kameras erfindet. Seine Mannschaft fremdelt zunächst mit ihm, aber lässt sich bald von seiner souveränen Beherrschung des neuen Mediums anstecken. „The Eichmann Show“ gelingt eine wunderbare Vergegenwärtigung der Epoche. Die Einschaltquoten drohen zu sinken, als Gagarin ins All fliegt und Exilkubaner das Schweinebucht- Fiasko anzetteln. Letztlich wird die Direktübertragung jedoch zu einem dauerhaften Erfolg. Da Hurwitz völlig auf Eichmann fixiert ist, kommt es zu Konflikten zwischen Regisseur und Produzent. Dass einer der Zeugen in Ohnmacht fällt, bekommt das Team erst zu spät mit. Ein Kampf um das richtige Bild, der nicht immer subtil, aber stets bewundernswert taktvoll inszeniert wird.
Nachdem ich „Der Fall Eichmann“ auf DVD gesehen hatte, wollte ich noch einmal „Ein Spezialist“ betrachten. Im Rahmenprogramm der „How to Catch a Nazi“- Ausstellung läuft er nicht. Guido Altendorf hatte mir bei der Pressebesichtigung bereits von seinen massiven Vorhalten erzählt; auch das Fritz-Bauer-Institut habe sich von Sivans Film entschieden distanziert. Meine ursprüngliche Empörung beruhte auf Sivans Umgang mit Hurwitz' Material. Zwar figuriert er im Vorspann gewissermaßen als Kameramann, aber Sivan hat seine enorme Leistung stets verschwiegen. Auch im Bonusmaterial der französischen DVD (eine andere Ausgabe scheint es nicht zu geben), einem einstündigen Interview mit dem Regisseur und seinem Co-Autor Braumann, fällt sein Name kein einziges Mal. Sivan spricht nur von dem „Archivmaterial“, das in so schlechter, unprofessioneller Qualität (immerhin U-Matic) sei, dass er es ständig digital nachbessern musste. Beim Sehen des Interviews erlebt man einen Filmemacher, der um jeden Preis seine eigene Autorenschaft legitimieren und herausstreichen muss. Schon ziemlich jämmerlich, auch wenn die Geschichtsfälschungen Sivans natürlich viel schwerer wiegen. Wie schön, dass Marker und „Der Fall Eichmann“ nun Hurzwitz' unschätzbaren Beitrag rehabilitieren!
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