Restaurierte Nuancen

Zu Anfang sind es die Farben der Moderne, erst später unterstreichen sie die Stimmungen. Eingangs sind sie gedämpft, entsättigt, vor allem ein Blaugrau sticht ins Auge. Der Händler hat solche Farben noch nie gesehen und macht sich Sorgen, ob sie seiner Kundschaft gefallen werden. Aber just in diesem Moment schneit eine Kundin herein, die begeistert ist von dem Muster des Kimonos.

In Kozaburo Yoshimuras Melodram »Yoru no Kawa« (Undercurrent), das in der Reihe "Berlinale Classics" läuft, erzählen 1956 die Farben die Geschichte mit: als Handlungselement und ästhetisches Experimentierfeld. Die junge Modeschöpferin Kiwa ist die Tochter eines Färbers, der auf Tradition hält. In seiner Werkstatt verarbeitet er vorwiegend kräftige Primärfarben. Die liegen Kiwa weniger, aber eines Abends hilft sie mit, als er Stoffe in leuchtendes Rot taucht. Der Vater ist entzückt von diesem Anblick. "Endlich wirst du mal fraulicher," lobt er die noch unverheiratete Tochter. Aber sie hat ihren eigenen Kopf.

Unaufhörlich sucht sie nach neuen Ideen, um den Kimonos, Accesoires und Handtaschen, die sie herstellt, eine eigene, unverwechselbare Note zu geben. Auf einer Zugfahrt hat sie einen Regenbogen gesehen, dessen Farbenspiel sie sogleich in der Werkstatt rekonstruieren will. Die Details des Alltags inspirieren die ehrgeizige Designerin - beispielsweise die roten Fruchtfliegen, mit denen sich der Wissenschaftler Takemura beschäftigt, in den sie sich verliebt hat. Ihre erste Begegnung ist ein hübsches meeting cute. Takemura bittet sie, ein Foto von sich und seiner Tochter zu machen, und dabei entdeckt sie, dass er eine Krawatte aus ihrer Herstellung trägt. Dessen Tochter wiederum ist begeistert, als sie das gleiche Muster auf der Tasche der Fremden erblickt. Wenn man »Undercurrent« (auch unter dem Alternativtitel »Night Fog« bekannt) in der restaurierten Fassung entdeckt, ist das Staunen groß, dass der Regisseur in japanischen Filmgeschichten bisher eine nur untergeordnete Rolle spielte. Er gilt als ein Mann für viele Genres, vielseitig, anschmiegsam, allerdings mit einem sachten thematischen Schwerpunkt: der Rolle, der die Gesellschaft traditionell den Frauen zuweist. Dieses Melo ist unkonventionell inszeniert, die Montage setzt rissige Akzente: die brüsken Szenenwechsel verblüffen; oft dauert es lang, bis der erwartete Gegenschuss kommt; mit schwebender Zielstrebigkeit nimmt die Kamera rätselhaft bezeichnende Requisiten in den Blick (Blumensträuße etwa setzen wiederholt besondere Akzente), die den Bilderfluss kurz stocken lassen.

Wie kraftvoll und vielschichtig das Motiv weiblicher Selbstbestimmung in »Undercurrent« ausgearbeitet ist, liegt gewiss auch daran, dass Sumie Tanaka (siehe "Autorinnen vor und hinter der Kamera" vom 12. 9. 21) das Drehbuch geschrieben hat. Kiwa steht zwischen mehreren Männern, darunter zwei Verehrern, derer sie sich erwehren muss, und dem Professor, dessen Frau schwer krank ist. Die komplexe Farbdramaturgie verdankt sich dem großen Kazuo Miyagawa, der als Kameramann in der Nachkriegszeit das Antlitz zahlreicher Meisterwerke von Ichikawa, Kurosawa, Mizoguchi und anderen entscheidend geprägt hat. Im Verlauf des Films nimmt er die Farben immer stärker als atmosphärisches Ausdrucksmittel in den Dienst. Der Hotelaufenthalt von Kiwa und Takemura ist in einem flammenden, leidenschasftlichen Goldrot gehalten. Der Film lässt keinen Zweifel aufkommenm, dass die Zwei gerade Sex hatten und den Seitensprung nicht bereuen. Eigentlich undenkbar in dieser Zeit. Brüsk entzieht Miyagawa danach dem Film wieder die kräftigen Töne; als Takemuras Frau gestorben ist und Kiwa zur Beerdigung kommt, sind sie fast ganz verschwunden. Am Ende, als im Hintergrund die Maiparade veranstaltet wird, gewinnen die Farben eine politische Dimension.

Das Schwarzweiß von »Szürkület« (Twilight) hingegen ist von Anfang an ein atmosphärisches Element. Auch in diesem Berlinale Classic galt es, eine außergewöhnlich differenzierte Bildkonzeption zu restaurieren. Kameramann Miklòs Gurbán wurde 1990 in Locarno dafür ausgezeichnet; sofern ich den Abspann richtig verstanden habe, wirkten auch Janos Kende sowie Regisseur György Féher an der visuelle Gestaltung mit. Féher war eine so schillernde Gestalt im ungarischen Kino, dass nicht einmal die IMDb mit einer umfassenden Filmographie aufwarten. Er trat auch als Darsteller in Erscheinung, vor allem aber als Produzent von Béla Tarr, der an »Twilight« als Berater genannt wird. Das Schwarzweiß des Films ist aber mitnichten ein kontraststarkes Tarr-Schwarzweiß, obgleich es eine elementare Schwere transportiert.

Die Waldlandschaften und die menschliche Natur sind undurchschaubar in dieser Variation von Dürrenmatts »Es geschah am hellichten Tag«. Das wollen die Tage indes nie wirklich werden in in diesem verregneten Winterfilm. Ein Schleier liegt über allem, ein milchiger Filter, der die Szenerien irreal wirken lässt und ihnen zugleich archaische Triftigkeit verleiht. Schwer zu sagen, wann und wo das Ganze spielt. An der Tankstelle wuird noch per Hand gepumpt. Féhers Drehbuch übernimmt die existenziellen Momente von Dürrenmatt. Es gibt vor, sich ansonsten wenig um dessen Krimiplot zu scheren. Tatsächlich ist Féher jedoch fasziniert von der Zeichenhaftigkeit der Indizien, die auf die Spur des Kindermörders führen sollen. An dem Kreuz, vor dem die erste Kindsleiche gefunden wurde, formieren sich Polizisten und Spurensicherung in der Totalen zu einer Trauergemeinde. Das Entscheidende ist schon geschehen, die Ordnung muss wiederhergestellt werden, aber was bleibt dem Film außer dem Aufbegehren gegen das Entsetzliche? Er ist verschwiegen, aber zuweilen schrecken auf der Tonspur die Verzweiflungsschreien der Angehörigen und dem Zürnen der Ermittler auf. »Twilight« könnte und dürfte gar nicht schneller erzählt werden, denn Existenz und Trauer lasten schwer. Die Agilität der Kamera widerspricht dem nicht. Sie schwenkt über eine Schulklasse, hin und zurück, ihre Neugier ist mutlos. Jedoch traut sie sich unerhörtes Zögern zu. Sie verharrt auf dem Beifahrersitz des Wagens, während der Inspektor zum Tatort geht. Eine verheißungsvolle Entdeckung gegen Ende spielt sich im Hintergrund ab, davor liegt die Windschutzscheibe, an der Regentropfen hinunterrinnen. Dieses Verharren hat ein dynamisches Gegenstück in Einstellungen wie jener, in der eine kleine Zeugin stracks auf die Kamera zuschreitet, im Munde eine Praline, aber keine Antworten für den Inspektor. Das Streicheln ihres Gesichtes mündet jäh in einem Wutausbruch, der sie beide aus dem Bildkader schleudert. Argwöhnisch schwebt die Kamera eingangs über endlose Baumwipfel und wiederholt ihre Bewegung am Ende. Was für ein Kreis schließt sich hier? Die Aussichtlosigkeit? Dieser Film misstraut den filmischen Mitteln und setzt sie doch mit ganzer Wucht ein.

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