Kein Monstrum ist heilig

Mit einem Mal geht alles ganz schnell. So gründlich, wie es seit elf Tagen im Falle Gérard Depardieus geschieht, wurde wohl noch kein Mythos demontiert. Gestern wurde sein Ebenbild aus dem Wachsfigurenkabinett in Paris entfernt. Die französische Kulturministerin Rima Abdul Malak setzt sich dafür ein, dass ihm die höchste Auszeichnung der Republik aberkannt wird, der Orden der Ehrenlegion, den ihm Jacques Chirac 1996 verlieh. Vor ein paar Tagen wurde bereits ein Ehrenzeichen in Québec kassiert.

Seit dem Abend des 7. Oktober, als auf France 2 das Magazin "Complément d' enquête" (Zusätzliche Ermittlung) ausgestrahlt wurde, ist nichts mehr, so wie es war. Der Untertitel der Sendung, "Depardieu, la chute de l'ogre" (Der Sturz des Ungeheuers) besiegelt seinen Niedergang. Darin sind Auszüge des 16stündigen Materials zu sehen, das Yann Moix im September 2018 während einer Reise des Schauspielers nach Nordkorea drehte. Der umtriebige Diktatorenfreund war zu den Feierlichkeiten des 70. Jahrestags der Staatsgründung angereist. Die geplante Dokumentation wurde nie fertiggestellt, weil sich kein TV-Sender fand, der sie ankaufen wollte. Jetzt wird mit fünfjähriger Verspätung öffentlich, wie abscheulich, sexistisch und obszön Depardieu sich vor Moix' komplizenhafter Kamera über Frauen, junge Mädchen und seinen eigenen Geschlechtstrieb äußert. Die Aufnahmen haben zwar keine Beweiskraft für die Anklage wegen Vergewaltigung, die gegen das monstre sacré anhängig ist. Aber sie legen nahe, dass die Anschuldigungen sexueller Übergriffe, die mehrere Frauen gegen ihn erhoben, stimmen. Man sieht und hört, wie er ein unerträglich sexualisiertes Klima schafft.

Am selben Tag beging eine Frau, die ihn 2019 als eine der ersten der Übergriffigkeit bezichtigte, Selbstmord. Die Schauspielerin Emmannuelle Debever, die an seiner Seite in »Danton« auftrat, stürzte sich in die Seine. Ich wusste nicht, dass man sich noch immer auf diese Weise umbringt. Es muss kein Zusammenhang zwischen ihrem Suizid und der Fernsehsendung bestehen, aber die Pariser Polizei hat eine eingehende Untersuchung der Todesumstände angekündigt.

Die Empörung ist seit diesem Donnerstag groß und beinahe einhellig. Nur noch Mitglieder seiner Familie halten ihm die Treue, beklagen eine Kabale gegen ihn, den sie privat als überaus schamhaft schildern. Die Regisseurin Josée Dayan, für die er den Grafen von Monte Cristo, Balzac, Jean Valjean und Rasputin verkörperte, hat sich noch nicht von ihm losgesagt, ebenso wenig wie ebenso seine Leinwandpartnerinnen Cathérine Deneuve, Fanny Ardant und auch Nathalie Baye, die in den Vorwürfen nicht den Menschen wiedererkennt, den sie erlebt hat. Depardieus Anwälte stehen auf verlorenem Posten, sie machten in einer Radiosendung Generationsunterschiede geltend: Früher habe man sich eben ungezwungener geäußert und ihr Mandant sei nun einmal ein rabelaishafter Charakter. Er selbst hat sich erst einmal nach Belgien zurückgezogen, wo er sich als erfahrener Steuerflüchtling bestens auskennt.

Der Bann, in den er das französische Filmgeschäft jahrzehntelang zog, ist endgültig gebrochen. Wie nur konnte er so lange dauern? Wie konnte Depardieu sich derart lang an der Spitze einer mulmigen Hierarchie halten und unangreifbar wähnen? Warum wurde sein Gebaren geduldet? Nun bricht alles plötzlich so leicht zusammen wie ein Kartenhaus. Zuvor genügte sein Name, um einen Film finanziert zu bekommen. Nun ist es eine ausgemachte Sache, dass kein Produzent, Verleiher oder Fernsehsender ihn mehr beschäftigen wird. Ein Garant für Erfolg war er ohnehin längst nicht mehr. Für seinen letzten Film »Der Geschmack der kleinen Dinge« wurden daheim nur 45138 Kinokarten verkauft; »Maigret«, der sechs Millionen Euro kostete, blieb mit weniger als einer halben Million Zuschauern weit hinter den Erwartungen zurück. Sein letzter veritabler Kassenschlager »Asterix und Obelix – Im Auftrag Ihrer Majestät« (über drei Millionen Zuschauer in Frankreich) liegt mehr als ein Jahrzehnt zurück, hätte aber das Doppelte einspielen müssen, um rentabel zu sein. Als Obelix wurde er sodann durch Gilles Lelouche ersetzt. Auch kleinlichere, zweitrangige Einwände werden nun laut. Das heilige Monstrum hielt es offenbar nicht mehr für nötig, seinen Text zu lernen und ließ sich die Dialoge per Knopf im Ohr soufflieren. Wegen seines Gesundheitszustandes sei er nicht mehr versicherbar: Er hat eine Lebertransplantation sowie weitere Operationen hinter sich und musste zuletzt wegen seiner Leibesfülle im Rollstuhl zu und auf Filmsets transportiert werden.

Dabei war diese Leibesfülle immer ein untrügliches Indiz dafür, wie es um das französische Filmgeschehen stand. Wenn er sich einer Diät unterzog, musste man sich eventuell Sorgen machen. Seine einzigartige und zugleich emblematische Karriere erzählt die Geschichte der Branche entscheidend mit. In einer Artikelserie, die im Sommer in "Le monde" erschien, machen Samuel Blumenfeld und Raphaelle Bacqué diesen Zusammenhang auf faszinierende und erschütternde Weise greifbar. Sie liegt in deutscher Übersetzung vor, wurde in der vorletzten Nummer von "Lettre" veröffentlicht und wird Ihnen hiermit glühend empfohlen. Gestern hörte ich auf der Seite von "Le monde" einen Podcast mit Blumenfeld und Bacqué, in der sie unter anderem erklärt, weshalb Depardieu sich so gut mit Castro, Putin, Kadyrow und Konsorten versteht: Sie sind Machthaber und deshalb die Einzigen, mit denen der Schauspieler sich noch auf Augenhöhe fühlt.

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