Herbst vorm Balkon

Er war der einzige deutsche Filmemacher, den ich im Februar regelmäßig im Berlinalepalast bemerkte. Die anderen sah man nur ab und zu. Aber Wolfgang Kohlhaase verfolgte mit bewundernswerter Ausdauer, zumindest bis vor ein paar Jahren, den Wettbewerb. Wir Journalisten mussten sie aus Chronistenpflicht aufbringen, aber ihn schien gutgelaunte Neugier hierhin zu führen. Er wollte wissen, was im Weltkino geschah. Meist saß er am Rand, unten im Parkett oder oben im Rang.

Bei seinem verlässlichen Anblick verspürte ich, obwohl ich ihm erst später begegnete, immer ein Gefühl cinéphiler Verbundenheit, eine Genugtuung. Mich berührte die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Drehbuchautor zunächst einmal Zuschauer war. Er suchte, was man auch in seinen Filmen merkte, die Verabredung mit dem Publikum. Gestern meldete zuerst die Akademie der Künste, dass ihr langjähriges Mitglied im Alter von 91 Jahren verstorben war. Selbst in die "Tagesschau" schaffte es die Nachricht, sogar mit einem schlaglichtkurzen Bericht illustriert. Er wird wohl der einzige deutsche Drehbuchautor seit Herbert Reinecker sein, dem eine solche Aufmerksamkeit zu teil wurde.

Einen richtigen Nachruf auf ihn zu schreiben, fühle ich mich nicht einmal halbwegs befugt: Ich kenne den Großteil der Filme nicht, die er für die DEFA schrieb, nur einige der Klassiker. Aber da mein Blog ja oft von Versäumnissen handelt, nehme ich einfach mal meine Bewunderung als Legitimation für eine Würdigung. Und die DEFA-Filme werden gewiss ganz ähnliche Qualitäten aufweisen wie die, die er nach der Wende schrieb. Er war unser Geschichtenerzähler.

Einige Male führte er selbst Regie, wenngleich wohl nicht aus Frustration darüber, was aus seinen Büchern in den Händen anderer wurde. Ihm war klar, dass er auf der Leinwand nicht genau das sehen würde, was er geschrieben hatte. Es sollte beim Drehen neu erfunden werden, in "ursprünglicher Sinnlichkeit", wie er mir einmal sagte. Die "Erfindung des Augenblicks" und die Erfindungen der anderen fürchtete er nicht. Er fühlte sich für die Stoffe in einer Weise verantwortlich, die auch auf dem Set nützlich sein konnte. 

Er eröffnete seinen Regisseuren und DarstellerInnen unvergleichliche Möglichkeiten. Jedoch vermute ich, er wollte genau das hören, was er geschrieben hatte. Denn er hatte einen Stil, der erkennbar war. Sein Werk sollte zusammenpassen. Gewiss, die Dialoge, die er verfasste, sprudelten vor Milieu- und Charakternähe. Aber sie waren eben auch das, was man in Frankreich mots d'auteur nennt. Sie stammten unzweifelhaft von ihm, trugen seiner Haltung zum Leben Rechnung. Dann jedoch flossen sie zu den Figuren hinüber und in sie ein. Er stattete sie aus mit kecker Wortgewandtheit, mit Epigrammen in Alltagssprache. Er beschenkte sie und ihre DarstellerInnen.

Bei einem Literaturfestival in Österreich begegnete ich einmal dem Schauspieler Markus Hering, der in »Whisky mit Wodka« die Zweitbesetzung von Henry Hübchen spielt. In einer Garderobenszene umwirbt er erfolglos Corinna Harfouch und sagt darauf (in etwa): "Besser eine Abfuhr, als wenn gar keiner fragt." Hering war erstaunt, dass ich gerade diesen Satz zitierte: Er hatte an keinem anderen Dialog so viel Vergnügen gehabt wie diesem. Solchen Mutterwitz besaßen bei Kohlhaase vor allem die Frauenrollen. Sie ließen sich die Butter nicht vom Brot nehmen, waren unternehmungslustig und patent. Das schnoddrige "Ist ohne Frühstück ….ist auch ohne Diskussion!" aus »Solo Sunny« fand ein schönes Echo in »Sommer vorm Balkon«, als Naja Uhl einmal Andreas Schmidt klarmacht: „Nur weil es Sex gibt, kannst Du dir nicht alles erlauben.“ (Ich zitiere aus der Erinnerung, sicher ist es im Film gescheiter und flotter.) Und wie lautet das Fazit von Uhl und Inka Friedrich? So ist das Leben. – Aber echt.

Als Wolfgang Kohlhaases Drehbuch zu »Whisky mit Wodka« für den Deutschen Filmpreis nominiert war, hatte ich das große Vergnügen, ihn zu interviewen. Das war eine kostbare Lektion in Haltung, Dramaturgie und Zusammenarbeit (mit Regisseuren ebenso wie mit dem Publikum). Seine Arbeitsmaximen klangen so klar und vernünftig, dass man sich wundert, warum sich hier zu Lande so wenige Filmemacher an sie halten. Eine kleine Stegreifliste, zur Erbauung und zum Weitersagen. Eine lautete: "Erzähle mir etwas Besonderes, das Allgemeine kenne ich schon." Eine zweite: "Eine Geschichte ist nur gut, wenn jeder von seinem Standpunkt aus Recht hat." Eine dritte: "Zum Recherchieren braucht man Gewissenhaftigkeit, und auch ein bisschen Glück. Und dann – das Wort wird Ihnen merkwürdig vorkommen - braucht man Mut zum Erfinden. Den Mut, zu sagen: Wenn die Dinge so passiert wären, wären sie besser. Man fragt sich, ob man das tun darf. Aber wenn Sie den Mut zur Erfindung gefasst haben, geben Sie ihn nicht wieder her, weil Sie merken: Von nun an geht es weiter." Er ergänzte: "Und da kommt das Handwerk ins Spiel. Ich glaube, sowohl die Zuschauer wie die Schauspieler lieben Dramaturgie. Das heißt, es muss etwas sinnvoll zu spielen und mit Neugierde zu betrachten sein." Über Filmtitel sagte er: "Die Lakonie eines Titels ist eine große Qualität. Kino besitzt ja unter allen Umständen eine Spur Trivialität. Filmtitel können anders sein als Buchtitel. Es muss über zwei Stunden funktionieren, man muss reingehen wollen, es muss aussehen, und es muss gut klingen." Und schließlich, als eine Summe seiner Berufspraxis: "Ich habe festgestellt, dass gerade beim Film sich manches leichter dialogisch erfindet, in Rede und Gegenrede. Filmemachen ist kommunikativ, nicht meditativ. Drehbücher schreibt man bei offener Tür." Der letzte Satz ist bestimmt die schönste Definition dieses Berufes, die ich je gehört habe.

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