Eine andere Welt

In St. Petersburg gibt es, das weiß ich auch nur aus dem Kino, eine Straße mit den idealen Proportionen: Sie ist 250 Meter lang, 25 Meter hoch und ebenso breit. Xavier (Romain Duris), den es als Hochzeitsgast in »L'Auberge espagnole – Wiedersehen in St. Petersburg« dorthin verschlagen hat, ist fasziniert von ihrem Ebenmaß: Gäbe es in seinem Leben doch nur die gleiche Klarheit!

Für Cédric Klapisch war vielleicht noch entscheidender, dass die famose Straße geradewegs auf das Mariinski-Theater zuläuft, wo einige der berühmtesten Opern und Ballette (zumal der Kirow-Compagnie) ihre Uraufführungen erlebten. Wer weiß, wie viele Aufführungen sich der Regisseur während der Dreharbeiten an der Newa ansah? Denn seine, nach dem Kino zweite, glühende Leidenschaft gilt dem Ballett. In seinem neuen Film, »Das Leben ein Tanz«, der morgen bei uns anläuft, erreicht diese Passion ihren – ich glaube, eher vorläufigen als endgültigen – Gipfel. Er ist die schönste Propaganda für die andere Kunstform. Es gab Vorwarnungen, die man vielleicht nicht ernst genug nahm. Romain Duris spielt in »So ist Paris« einen Revuetänzer, der an einer schweren Herzkrankheit leidet. Und die Choreographie des Alltags gehört ohnehin zu den schönsten Sorgen für einen Regisseur wie ihn, der mit Vorliebe die Lebensbejahung in Szene setzt.

Wie heftig, ja verzehrend diese Begeisterung ist, schwante mir erst, als Klapisch während des ersten Lockdowns einen Smartphone-Film mit Tänzern der Pariser Oper machte, der damals zugleich ein Lebenszeichen und ein Dankeschön war. Hinreißend ist diese Hommage nach wie vor: eine flinke Home-Office-Montage zum Auftakt von Prokofiews »Romeo und Julia«, voller Drama und Euphorie. Damals hatte ich noch keine Ahnung, wie eng und ausdauernd seine Beziehung zur Ballett-Compagnie der "Opéra de Paris" tatsächlich ist. Inzwischen tut sich vor mir eine gar nicht so geheime und massive, bereits mehrere Jahrzehnte andauernde Zweigleisigkeit auf. Klapisch hat gleich zwei Dokumentarfilme über Choreographien ihrer ehemaligen Leiterin Aurélie Dupont gedreht, und zum 350. Jubiläum des Hauses eine »Opera battle« gefilmt, in der sich das Akademische dem Hip-Hop öffnet. Wenn man ihm Glauben schenkt, war das erste Mal, dass ein Kamerakran in der Garnier-Oper eingesetzt wurde. 2018 hat er bereits mit den zwei Stars seines neuen Films gearbeitet, der Primaballerina Mario Barbeau und dem modernen Choreographen Hofesh Shechter, an dem Ballett mit dem schönen Titel »In the Art of not looking back«. Klapisch ist gewissermaßen der inoffizielle Hausregisseur der Compagnie, und die Straßenflucht in Petersburg das touristische Äquivalent zur majestätischen Avenue de l' Opéra in Paris.

Die Spuren vieler dieser Aktivitäten finden Sie leicht mit Ihrer Suchmaschine (meist englisch untertitelt), wobei Klapisch' ausführliches Interview mit der Plattform numeridanse.tv eine anschauliche, exzellente Summe seiner Gedanken und Betrachtungen zieht. Die Weinbergszenen aus »Der Wein und der Wind« werden Sie fortan bestimmt mit anderen Augen sehen. Und seinen neuen Film erst recht: als das Bekenntnis seiner Liebe zum Facettenreichtum der anderen Kunstform, die in ihren klassischen Codes und zeitgenössischen Revisionen aufscheint.

Diese zweite Leidenschaft berührt mich, weil Klapisch sie zwar durchaus prominent auslebt, aber eben auch diskret und demütig. Er nähert sich der anderen Disziplin mit schöpferischer Ehrfurcht sowie einem souveränen Bewusstsein für die Möglichkeiten des Gleichklangs. Das ist keine bereits im Voraus gewonnene Wette, im Gegenteil. Eine befreundete Kollegin (die vielleicht gar nicht Wert auf ihre Anonymität legt, die ich in der Eile aber nicht mehr fragen konnte), schrieb mir nach der Pressevorführung von „Das Leben ein Tanz“: „Film und Tanz schließen sich in ihren künstlerischen Mittel gegenseitig aus.  Tanz ist eine Bewegungskunst und Film lebt von der Bewegung (Kamera, Schnitt) - sie folgen dabei aber jeweils anderen Gesetzen, die nicht zur Deckung gebracht werden können, sich gegenseitig ausschließen, bzw. aufheben. (Das Gleiche gilt auch für den Raum). Das Wesen des Tanzes kann nicht in Film aufgelöst oder umgesetzt werden. Film kann Tanz nur abbilden oder dokumentieren, in dem er auf filmische Mittel verzichtet. Mit filmischen Mitteln kann vom Tanz nur die Mechanik erfasst werden.  Das gilt unbedingt für das klassische Ballett, beim zeitgenössischen Tanz gelingt Verfilmung schon eher, manchmal."  

Ich hatte ihre Überlegungen im Hinterkopf, als ich den Film sah. Sie scheinen mir zu rigide in ihrer Konstruktion von Ausschließlichkeit. Aber natürlich hat sich auch Klapisch diese Fragen gestellt und sich Rechenschaft abgelegt über die Wahl seiner Mittel. Er weiß, wann die Kamera sich bewegen darf - wenn etwa die TänzerInnen bei Shechters „Political Mother“ in Wartestellung sind, schnellt sie auf sie zu -, und wann nicht: In seinen unbewegten (starr wäre nicht das richtige Wort) Totalen gibt er den Choreographien den Raum, den sie brauchen. Seine Inszenierung zelebriert die Perfektion ebenso wie das vermeintliche Chaos, die Meisterschaft wie die Fragilität. Sie ist „en phase“ mit dem fremden Schauspiel und analysiert es zugleich als Terrain des Ausdrucks. Klapisch navigiert zwischen zwei Polen: dem klassischen Ballett, das strengen Codes gehorcht und ein unerbittliches Arbeitsethos fordert (von dem er bei der Arbeit mit den DarstelllerInnen profitiert) und der offenen Form der Moderne, die neue Energien freisetzt. Er versöhnt sie, wie er den Tanz mit dem Kino versöhnt. Seine Protagonistin wagt den Schritt in eine andere Welt. Ihr Regisseur versteht, wie verlockend das ist.

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