Der pünktliche Tyrann

Ist Langs Mabuse-Zweiteiler ein Gangsterfilm? Er wird oft so bezeichnet, wenngleich meist vorbehaltlich, in Erwartung einer erhabeneren Kategorie, der er zugeschlagen werden könnte. Aber wenn doch, würde er einem Genre angehören, für das es 1922 noch nicht einmal in den USA eine nennenswerte Tradition gab.

Mit Mabuses Bande von Handlangern hätte Lang das Personal dafür. Sie ist ehern hierarchisch organisiert und die Mechanik von Furcht und Gehorsam gut geölt. Einige Untergebene erweisen sich als pfiffig und gerissen, andere wirken eher unterbelichtet. Letzteres könnte ein Winkelzug ihres Bosses sein, um seinen Widersachern Etappensiege zu ermöglichen und sie so im Spiel zu halten. Der Umstand, dass die Ganoven sich oft verspäten, mag das bestätigen. Die niederen Schurken dienen auch als ein grimmiger comic relief, was Lang in »Das Testament des Dr. Mabuse« noch unterstreicht, in dem er diese Rollen mit Komödianten (Paul Henckels, Theo Lingen) besetzt.

Die maßgeblichen Beweggründe des (danach) klassischen Gangsters, Bereicherung und sozialer Aufstieg, sind Mabuse eher nebensächlich. Die Unterwerfung der Opfer unter seinen Willen ist ihm wichtiger als materielle Beute. Sozialer Mobilität wiederum versichert er sich durch die zahlreichen Rollen, in die er maskiert schlüpft. Anders als Feuillades Banditen, die das Gelingen eines Coups in Euphorie versetzt, beschert es Mabuse eine nur kalte Genugtuung. Im zweiten Teil, in den sich verstärkt Züge des Melodrams mischen, gehen ihm allerdings zusehends die Nerven durch. Seine Achillesferse ist eine andere, unvorhersehbare Spielart des Begehrens: Er ist besessen von Gräfin Told, seinem ätherische Ater ego. Sie droht, seinen Untergang zu besiegeln. Auch darin legt Lang ein Fundament des Gangsterfilms, wie er später in Frankreich und Hollywood kultiviert wird.

Auf die innere Verwandtschaft zwischen Verbrechern und Gesetzeshütern, die das Genre dort prägen wird, weist Lang ebenfalls voraus. Ihre Spiegelbildlichkeit betonen nachdrücklich die Kadrage – er gruppiert sie ähnlich und in gleicher Anzahl – sowie die Montage, die ihre jeweiligen Unternehmungen parallel führt. Die Evidenz, die Langs Kino besitzt, gewinnt hier bereits resolute Ambivalenz. Er stellt sich zwar unablässig die Frage, wie viel Informationen das Publikum in einem bestimmten Moment braucht und wie er diese visuell vermitteln kann. Sie besitzen bei ihm den illustrativen Nachdruck eines Indizienbeweises. Seine Bildideen sind ebenso pragmatisch wie trügerisch. Noch die irrwitzigsten Wendungen des Plots werden durch die Montage beglaubigt. Sie verleiht ihnen unverbrüchliche Kausalität. Sie arbeitet mit der Analogie der Verrichtungen und Geschehnisse. Oft folgt eine Einstellung der vorangegangene wie aufs Stichwort. Sie liefert die umgehende Antwort auf eine zuvor gestellte Frage.

Was dem Zweiteiler allerdings noch weitgehend zum Gangsterfilm fehlt, ist die Szenerie. Das Antlitz der Stadt, ein ungenanntes Berlin, mutet wenig modern an. Die wenigen Außenszenen habe kein wirkliches Flair von Urbanität; die des nachts illuminierte Metropole tritt vorerst nicht in Erscheinung. Einmal nimmt Staatsanwalt Wenk die Verfolgung noch in einer Pferdedroschke auf. Vieles trägt sich in alten, holprigen Gassen zu, die in irgendeiner mittleren Stadt in Norddeutschland liegen könnten. Diese Welt ist noch mythisch gefügt; die Unterwelt ist auch im übertragenen Sinne ihr Fundament.

Die Fassaden geben nicht preis, was hinter ihnen geschieht. In den Interieurs zeigt sich nämlich ein anderes Bild. Sie sind mondän, prunkend eklektizistisch ausgestattet und dem Zeitgeist dicht auf den Fersen. Das Dekor von Schramms Nachtclub ist rigoros expressionistisch. Das Bric á brac von Graf Tolds Stadthaus und seine Kunstsammlung liebäugeln mit den Aufbrüchen der Moderne. Der neu eröffnete Spielclub, der sich augenblicklich in ein Varieté verwandeln lässt, sobald eine Polizeirazzia droht, ist ein verschmitztes Kabinettstück bildnerischer Phantasie. Nicht nur zwischen Außen und Innen herrscht ein unauflösbarer Widerspruch, auch in der Reihe der Interieurs gibt es eine Binnenspannung zwischen Opulenz und Nüchternheit. Die Gefängniszellen sind wirklich niederschmetternd kahl und die Zimmer des Luxushotels regelrecht kärglich drapiert. Das mag eventuell eine Frage des Budgets sein. Aber ich vermute, der Architektensohn Lang war an einigen Dekors einfach stärker interessiert als an anderen. Sie sollen eine Hierarchie der Aufmerksamkeit schaffen.

»Das Testament des Dr. Mabuse« scheint entschlossenere Schritte in Richtung Urbanität zu unternehmen. Aber sie ist weniger anschaulich als zeichenhaft. Lang bietet immerhin das gesamte Arsenal des Tonfilms auf – man denke an das von einem Attentäter angestiftete Hupkonzert, das seinen Schuss übertönen soll -, um die die Kulisse einer modernen Großstadt zu errichten. Milieurealismus ist dabei seine geringste Sorge (wie kann sich der abtrünnige Gangster, der ein Jahr zuvor noch arbeitslos war, ein so weitläufiges Apartment mit Bauhaus-Sesseln und Art-Deco-Einrichtung leisten?), aber eine gewisse soziale Atmosphäre stellt sich dennoch ein. Auch in »Die tausenden Augen des Dr. Mabuse« bleibt die Urbanität eine Schimäre: einerseits erkennbar in Westberlin gedreht, andererseits kündigt die Silhouette des Vorspanns einen Schauplatz voller Wolkenkratzer an. Nein, die Stadt ist vorrangig ein mentaler Ort in Langs Mabuse-Zyklus.

Dem entspricht das Bild von Öffentlichkeit, das er entwirft. Sie existiert nur als Publikum, das sich auf Geheiß von Mabuse versammelt; gleichviel, ob beim Hypnose-Vortrag oder der politischen Demonstration, die er, nun als Bolschewist verkleidet, anstachelt, um einen unliebsamen Zeugen zu beseitigen. Mabuse scheint ein Wunder der Allgegenwart zu sein, ein Dämon, der allerorten gleichzeitig in Erscheinung treten kann. In die Figur dieses stets pünktlichen Tyrannen lässt sich dementsprechend fast alles hineininterpretieren. Er ist eine noch ahnungsvollere Gestalt als Caligari und Nosferatu vor ihm. Lang reklamierte später für sich, im "Testament" habe er Nazi-Parolen in seinen Mund gelegt (dazu hätte man gern Thea von Harbous Meinung gehört, die schon früh Parteimitglied war) und den ersten Thriller gedreht, der als politische Waffe eingesetzt wurde. In »Spione« kam er sich übrigens schon selbst zuvor, wo die Rollkommandos der Staatsgewalt die Machtausübung der Nazis vorexerzieren. Das Verbrechen ist bei Lang die Metapher eines noch größeren Verhängnisses.

Man kann nicht umhin, die Unermüdlichkeit seines resoluten Mabuse zu bewundern. Im Kalten Krieg ist er rechtzeitig wieder zur Stelle. »Die tausend Augen des Dr. Mabuse« kam mir beim Wiedersehen wie ein Spionagefilm vor; nicht zuletzt, weil der Schauplatz des Finales wie die Glienicker Brücke aussieht. Das ist er natürlich nicht, Mabuse greift in seine alte Trickkiste von Hypnose und Unterwerfung. War er 1960 aus der Zeit gefallen? Das mochte seinerzeit so erscheinen. Als eine prophetische Figur kam er dennoch zum Einsatz. Für seinen Plan, die Zimmer eines Luxushotels zum Zweck der Erpressung zu überwachen, war die Stasi durchaus empfänglich. Als das berüchtigte "Stadt Berlin" am Alexanderplatz nach der Wende renoviert wurde, rissen die Bauarbeiter kilometerlange Kabel aus den Wänden und entdeckten unzählige Mikrofone.

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