Das ist was für Kenner

Wenn wir über das klassische Kino schreiben, stellen wir nur selten einen Widerspruch zwischen Handwerk und Industrie her. Das ist nicht verkehrt, obwohl er sich historisch (industrielle Revolution) und soziologisch (entfremdete Arbeit) ja herleiten und behaupten ließe.

Dieser ungeordnete Gedanke geht mir seit einigen Tagen durch den Kopf, nachdem ich mit einem Kollegen telefonierte. Wie es meist bei unseren Gesprächen passiert, kamen wir aufs britische Kino zu sprechen. Mein Freund pries inbrünstig die "schiere handwerkliche Solidität", die er im Werk eines bestimmten Regisseurs ausmachte. Dessen Name tut an dieser Stelle nichts zu Sache, denn das Lob könnte sich direkt auf den Filmemacher münzen lassen, um den es heute geht: Basil Dearden.

Vor einigen Wochen ("Drei eilige Hinweise") empfahl ich die Retrospektive, die ihm das Metropol in Hamburg gerade widmet. Dazu sind einige Korrekturen fällig, die ich gern vornehme. Sämtliche Filme, die ich seinerzeit vermisste, laufen sehr wohl. Die Kinemathek Hamburg e.V. hat das Programm massiv aufgestockt. Bis Mitte April werden dort 34 seiner insgesamt 50 Regiearbeiten gezeigt, alle in Originalfassung und die meisten als 35-mm-Kopien. Das ist eine ziemlich einzigartige und schier sympathische Unternehmung. Manja Malz vom Metropolis schrieb mir, der Zuspruch des Publikums sei zunächst verhalten (schreckt die OV wirklich ab?), aber viele KinogängerInnen, die einen Dearden ausprobiert hätten, kämen wieder. Malz hatte mit einigen Engländern gesprochen, die stolz waren, dass "ihr" Dearden so umfassend gewürdigt wird. Auch daheim gab es dergleichen lange (oder womöglich überhaupt noch) nicht.

Nun ist es nicht so, als sei der Regisseur der Filmgeschichtsschreibung vollends abhanden gekommen. In Großbritannien sind in den letzten 13 Jahren zwei, drei Bücher über ihn und seinen Komplizen Michael Relph, der ihm zunächst als Szenenbildner und dann als Produzent unverbrüchlich zur Seite stand, erschienen. Und die Criterion Collection fand einige ihrer Filme so interessant, dass sie sie unter dem Label "Basil Dearden's London Underground" auf DVD veröffentlichte. Dennoch betreibt das Metropolis hier Archäologie. Heute ist Dearden eher an acquired taste (siehe Überschrift), obwohl er zeit seiner Karriere im Mainstream arbeitete. Das Kino hofft auf Nachahmer. Der wackere Filmclub 813 in Köln spielt seit diesem Monat bereits einige Filme nach.

Mit ihrer zweisprachigen Broschüre zur Filmreihe leistet die Hamburger Kinemathek gründliche Überzeugungsarbeit. Insbesondere das weitgehend unbekannte Frühwerk (verblüffend, wie viele Komödien und Satiren er gedreht hat!) stellt sie ausführlich vor. Die Propaganda-Komödie ist ein Schwerpunkt seiner frühen Jahre. Die Texte dazu lesen sich flott ("Hier stirbt kein Gag, bevor er nicht restlos ausgespielt wäre."), überhaupt ist es eine muntere Lektüre (Lucas Barwenczik über »The Square Ring«: "Nicht nur dem Titel gelingt die Quadratur des Kreises."). Deardens Arbeit wird in Produktionskontexte eingebunden (namentlich in den der Ealing-Studios) und regelmäßig heben die AutorInnen den semi-dokumentarischen Stil seiner Nachkriegsfilme hervor, seine Vorliebe für Originalschauplätze. Ebenso weisen sie auf thematische Kontinuitäten hin, etwa die Jugendkriminalität. Meine epd-Film-Kollegin Birgit Glombitza bescheinigt Deardens seinerzeit bahnbrechenden Sozialdramen, darunter »Sapphire« (Das Mädchen Sapphire) und »Life for Ruth« (Brennende Schuld) eine "bemerkenswerte Redlichkeit" zu, nennt sie "sorgfältig gebaute Diskursfilme". Keine der Kinoarbeiten wird über Gebühr gepriesen, einigen Texten kommt ihr Gegenstand gelegentlich abhanden, aber Neugier schüren sie allesamt.

Der Streitfall Dearden ist damit nicht endgültig beigelegt. In einen auteur lässt er sich schwerlich verwandeln. Aber ein neuer Blick auf ihn wird möglich, der in seinem Handwerk und über dieses hinaus Stärken entdecken kann. Das ist zweifellos auch eine Generationenfrage. Hier sind gleich drei beteiligt: die  des zeitgenössischen Publikums und der Branche, die Dearden mehr oder weniger als selbstverständlich nahmen; die der Kritikerschule, die später genau dies verdächtig fand; schließlich die heutige, die sich im Prinzip von beiden Zusammenhängen lösen könnte. Ganz so mühelos gelingt das nicht. Mir beispielsweise steckt das vernichtende Urteil von David Thomson noch in den Knochen, der in seinem "Biographical Dictionary of Film" Deardens Ruf, zuverlässig und vielseitig zu sein, mit wohlerwogener Ironie aufspießt. Für ihn ist er ein Repräsentant der bleiernen Langeweile, die im britischen Studiosystem der Zeit herrschte. Der Schauplatzrealismus und das Aufgreifen kontroverser Themen überzeugen ihn keinen Deut. Deardens Partnerschaft mit Relph betätigt in seinen Augen die verheerende britische Vorliebe für ein "bürokratisches Kino". Genug Anlass zum Streiten also: in den nächsten Tagen.

 

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