Außerhalb der Blase

Am deutschen Publikum ging die Seligsprechung von Joanna Hogg weitgehend vorüber. „The Souvenir“ lief zwar 2019 im Panorama der Berlinale und machte dort Furore. Aber einen hiesigen Verleih fand der Film nicht. Das Berliner Kino „fsk“ immerhin fasste sich ein Herz, ihn 2020 in Eigeninitiative zu zeigen. Derzeit läuft im wackeren Kino am Segitzdamm die Fortsetzung „The Souvenir II“.

Auch das Sequel hat bei uns keinen Verleiher gefunden, was man insofern natürlich nennen muss, weil es sich nicht voraussetzungslos genießen lässt: Man muss die Vorgeschichte der Londoner Filmstudentin Julie (Honor Swinton Byrne) kennen, insbesondere die dramatische Wendung am Ende, um ihren weiteren Werdegang besser zu verstehen. „The Souvenir“ ist auf DVD und Blu-ray erhältlich. Das „fsk“ plant, im November ein „Souvenir“- Double-Feature zu zeigen. Momentan bin ich noch am falschen Ort, hoffe aber, die Fortsetzung ab dem Wochenende in Berlin sehen zu können. Ich komme dann auf sie zurück. Heute interessiert mich das Phänomen, welches der Film und seine Regisseurin darstellen.

Beinahe hätte ich am Ende des ersten Absatzes „die mit Spannung erwartete Fortsetzung“ geschrieben, aber das muss man einschränken: in bestimmten Kreisen, genauer, dem Kreis der Eingeweihten. Ein Sequel im Kunstfilmbereich ist ja ziemlich einmalig. Hier wirkt keine Blockbusterlogik, denn der nötige Rückhalt an den Kinokassen fehlt. Joanna Hogg hat „The Souvenir“ von Anfang an als Diptychon konzipiert, das Drehbuch zur Fortsetzung entstand, als der erste Teil herauskam. Die Regisseurin knüpft nicht opportunistisch an einen Erfolg an, der sich ohnehin schlecht nach Zahlen bemessen lässt. Seit der Premiere in Sundance hat der erste Film so ziemlich jede Auszeichnung gewonnen, die er gewinnen konnte. Auf der Jahresbestenliste von „Sight and Sound“ nahm „The Souvenir“ 2019 den Spitzenplatz ein, noch vor „Parasite“ und „The Irishman“ (dessen Regisseur übrigens als Mitproduzent von Hoggs Film fungiert – seit Scorsese „Archipelago“ sah, wollte er unbedungt mit ihr arbeiten). Die Liste basiert auf einer Umfrage, welche die britische Zeitschrift alljährlich unter 100 KritikerInnen weltweit veranstaltet. Die Begeisterung für den Film ist mithin keineswegs eine anglo-amerikanische Domäne. Selbst die französische Kritik zog mit, wenn auch etwas verhaltener, da man dort immer eine leichte Skepsis gegenüber auteurs hegt, die man nicht selbst entdeckt hat. Die Karriere des Films ist tatsächlich einzigartig eng an die Unterstützung der Kritik geknüpft. (Aus deren Sicht kann das ja auch ein Tauschgeschäft nicht ohne Eitelkeit und Gewinn sein: Seht her, wir schreiben eine Künstlerin groß!) 2020 erschien das erste Buch über die Regisseurin (Davina Quinlivan: „The Cinema of Joanna Hogg“, Edinburgh University Press), die zu diesem Zeitpunkt gerade einmal vier Kinofilme gedreht hatte. Diese Filmemacherin erfüllt anscheinend ein starkes publizistisches Begehren.

Das fiel mir erst richtig auf, als „Film Comment“ im Mai-Juni 2019 „The Souvenir“ eine Titelgeschichte widmete. Die Überschrift lautete „An Artist breaks through“. Im Editorial frohlockt Chefredakteur Nicolas Rapold gleich zweimal, die Filmemacherin „is coming into her own“. Ich konnte diesen Befund nicht ganz nachvollziehen, für mich bewiesen schon Hoggs vorangegangenen Filme eine ungeheure Reife. Eigentlich zeigt sie sich bereits in ihrem Debüt „Unrelated“ von 2007, in der besonderen Personen- und Schauspielerführung und der filmischen Besitznahme des Raums: großartig, wie sie die englischen Touristen bei ihren Erkundungen der Toskana (die ganz und gar nichts zu tun hat mit der Toskana von Merchant-Ivory!) sowie in den Interieurs gruppiert bzw. isoliert. Auch da spürt man schon den mutigen Zugriff auf das eigene Leben als Filmstoff und auf ein im britischen Sozialrealismuskino doch ungewöhnlich privilegiertes Milieu. „Archipelago“ und „Exhibition“ (die bei uns in die Kinos kamen) bekräftigen den Eindruck einer eigenen Handschrift, die sich zwar entwickelt, aber doch im Zeichen einer Souveränität und Unabhängigkeit steht. „The Souvenir“ gefiel mir zwar sehr, aber ich fand ihn nicht als den Schritt in eine ganz neue Dimension der Meisterschaft. Ganz teilen konnte ich die umfassende Kanonisierung ihres vierten Films nicht; mir fehlten wohl Hildegard Knefs berühmte 17mm zum Glück.

Das lag vielleicht auch an meinem Vorurteil gegenüber Filmen, die von Filmemachern handeln. Ich finde das oft so verwerflich bequem, so denkfaul und naheliegend. Die Begeisterung dafür überlasse ich lieber jenen KollegInnen, die sich gern auf Metaebenen oder in Gefilden der Spiegelbildlichkeit tummeln, die nur sie dechiffrieren können. Eine Kritik, die demonstriert, wie genau sie die kreative Selbstsuche hinter der Kamera versteht, mag sich auf einer schmeichlerischen Augenhöhe wähnen. Aber Hogg hat schon davor bewiesen, dass die Authentizität ihrer Figurenbetrachtung keine Domäne der Autofiktion ist.

Und dürfen wir von KünstlerInnen nicht erwarten, dass sie neugierig sind auf das, was außerhalb ihrer Blase geschieht? Julie spricht genau dies in „The Souvenir“ direkt an, als sie an der Filmhochschule ein Projekt über den Niedergang der einstigen Schiffsbaumetropole Sunderland (wir befinden uns im Thatcher-England der 1980er) verteidigt: „I don't want to be in that bubble.“ Aber über oben genanntes Vorurteil setze ich mich gern hinweg, wenn der Film exzellent ist. Daran besteht im Fall von „The Souvenir“ kein Zweifel. Ich wundere mich dennoch, dass sich eine solch uneingeschränkte Verschwörung des Wohlwollens um den Film rankt. Was habe ich übersehen? Vielleicht finde ich es heraus, wenn ich die Fortsetzung sehe.

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