Hoffnungsvoll anachronistisch

Wenn zu Beginn eines Films Zeit und Ort eingeblendet werden, dient das in der Regel der Klärung. In Whit Stillmans Filmen ist das Gegenteil der Fall. Nicht, dass die Einblendungen nicht hilfreich wären, aber sie setzen eher Fragezeichen. Und damit bereits die erste Pointe der Filme.

Was etwa soll man mit dem „Manhattan, Christmas, not so long ago“ anfangen, das sein Regiedebüt „Metropolitan“ in einer vagen Vergangenheit verortet? Oder dem „The last decade of the cold war“, mit dem „Barcelona“ anhebt. „The Last Days of Disco“ spielt in „the very early 1980ies“, warum legt der Regisseur Wert auf das „very“? Sein bislang letzter Film „Love & Friendship“ setzt in einem „November“ ein, während man bei einem Kostümfilm doch vor allem gern wüsste, in welche Epoche dieser fällt. (Es handelt sich um die 1790er.) Die Datumsangabe sind so zuverlässig wie im Märchen. Stillmans Geschichten spielen in einer ungefähren Vergangenheit, die nie filmische Gegenwart werden muss. 

Seine Filme sind rar, fünf hat er in drei Jahrzehnten gedreht, und sie sind nicht oft zu sehen. „Damsel in Distress“, der auch „Algebra in love“ heißt, ist mir immer entwischt. Umso erfreulicher, dass in diesen Tagen „Metropolitan“ und „Love & Friendship“ auf MUBI anlaufen, jener Streamingplattform, deren erlesenes Programm ebenfalls Seltenheitswert hat. Auf deren Seite ist ein kundiger, erhellender und angemessen verschmitzter Essay (https://mubi.com/de/notebook/posts/that-obscure-subject-of-desire-love-friendship-and-the-cinema-of-whit-stillman) von Duncan Gray zu lesen.

Als ich im Winter 1990 Stillmans Debütfilm entdeckte, fühlte ich mich augenblicklich in eine exotische, aber nicht fremde Welt versetzt: in die exklusiven Zirkel der New Yorker Oberschicht, ins kleine Universum der eleganten Bälle und Dinnerparties, wo erwartungsvolle Debütantinnen mit ihren befrackten Begleitern auftreten. Diese Welt erinnerte mich an die frühen Gesellschaftsromanzen und -satiren von F. Scott Fitzgerald, in denen sich die Entzauberung noch nicht komplett vollzogen hatte. Stillmans Figuren sprachen über Erfahrungen, bevor sie sie gemacht hatten, vertrieben sich beredsam die Frist ungeduldigen Wartens. Der Regisseur aber hatte vielleicht eher Jane Austen im Sinn (über sie wird debattiert); erstaunlich, dass er zweieinhalb Jahrzehnte wartete, bis er mit „Love & Friendship“ tatsächlich einen Roman von ihr adaptiert, einen unbekannten überdies, mit dem die Autorin nicht zufrieden war.

Solche Figuren wie in „Metropolitan“ kannte man nicht aus den anderen US-Independents, die damals Furore machten. Sie schienen aus der Zeit gefallen, waren naiv, privilegiert, dekadent, pedantisch und manchmal durchtrieben. Stillman stellte sich als Filmemacher des Wortlauts vor, dessen Charaktere sich in vollständigen Sätzen artikulieren und gern über grammatikalische Fragen streiten; ihre teure Erziehung soll sich schließlich auszahlen.Die Darsteller kannte man nicht, aber einigen sollte ich in späteren Filmen wieder begegnen. Taylor Nichols ist ausgezeichnet als dünkelhafter, aber verbindlicher Snob Charlie, der als eine Art Zeremonienmeister des mondänen Schauspiels fungiert. Nick, den Chris Eigeman spielt, ist erfüllt von einer nachgerade idealistischen Verehrung seiner eigenen Klasse. Er hatte gehofft, Bunuels „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ würde endlich einmal die Wahrheit über sie zeigen, nämlich dass sie wirklich Charme hat. (In „Barcelona“ hadert er mit dem Ende von „Die Reifeprüfung“, wo sich Katherine Ross seiner Ansicht nach für den Falschen entscheidet.) Carolyn Farina mochte ich ebenfalls als Audrey, die sich in Tom verliebt hat, nachdem sie seine Liebesbriefe an eine andere gelesen hat. (Man muss sich keine Sorgen um sie machen, in „The Last Days of Disco“ ist sie eine erfolgreiche Verlagslektorin.) Tom wiederum passt gar nicht in ihre Welt, mit dem gemieteten Smoking und seinen „radikalen“ Ansichten. Er las keine Romane, sondern lieber Literaturkritik , was mich an einige Leute erinnerte, mit denen ich studiert hatte.

Die Entstehung des Films war eine wunderbare Hochstapelei: gedreht an exklusiv mondänen Orten, aber mit minimalem Budget. Kein Wunder das ich damals in Tom ein Alter ego des Regisseurs sah. Das war so richtig, wie es falsch war. Der Film zeigt die Innenansicht eines Milieus, auf das er von außen blickt. Im Stammbaum der Stillmans wurden mehrere Vermögen angehäuft, die aber weitgehend aufgebraucht waren, als Whit zur Welt kam. Vor seiner Filmkarriere hatte er sich in diversen Berufen versucht, als Redakteur in Literaturzeitschriften oder Angestellter spanischer Verleiher, der Filme von Fernando Trueba und anderen nach Amerika vermittelte. Aus einem Porträt der New York Times erfuhr ich 2016, dass er zwar formvollendet als Dandy lebt, aber sein gesamtes Hab und Gut in eine Reisetasche passt. Wenn seine Hauptfiguren oft klamm sind und sich in einem Milieu bewegen, das dies nicht verzeiht, erzählt er also womöglich aus eigener Anschauung.

Seine Laufbahn weist ihn als einen unfreiwilligen Kometen aus. Nach dem kommerziellen Fiasko von „The Last Days of Disco“ konnte er 14 Jahre lang keinen neuen Film realisieren. Seit „Love and Friendship“ ist mittlerweile auch ein halbes Jahrzehnt ins Land gegangen, obwohl dieser ein beachtlicher Kassenerfolg war; zweifellos dank des Austen-Bonus. Seine Trilogie aus den 1990ern wurde vor ein paar Jahren exquisit und aufwändig auf DVD in der noblen Criterion Collection aufgelegt. Ohne Einfluss waren seine Filme nicht. Noah Baumbach hat sie zweifelsohne genau studiert (Wes Anderson wohl eher nicht) und möglicherweise gäbe es ohne sie „Sex and the City“ und „Gossip Girl“ nicht. Kubrick schätzte "Barcelona" sehr.

Gleichviel, Stillman ist ein acquired taste, sein überschaubarer filmischer Kosmos ist nicht jedermanns Sache. Er sei zu hermetisch und selbstgenügsam, darin sind sich die großen Studios und viele Kritiker einig, und seine Charaktere seien zu sehr mit sich selbst beschäftigt, zu prätentiös. „Barcelona“ ist ein triftiges Gegenargument. Seine zwei Protagonisten sind zwar Arglose im Ausland, durchaus in der Nachfolge Mark Twains. Aber sie sind gezwungen, sich einen Reim zu machen auf die Ablehnung, ja Feindseligkeit, die den USA in Europa entgegenschlägt. Das Bonusmaterial der Criterion-DVD gibt Aufschluss darüber, dass er einen weitaus politischeren und gewalttätigeren Film im Sinn hatte. Ursprünglich gab es mehr Attentate, und das Finale hätte in einem Krankenhauszimmer gespielt, wo die Figuren ihre Blessuren auskurieren.

Die Selbstbezogenheit seiner Figuren jedoch hört nicht auf, mich zu amüsieren. Sie nehmen sich selbst so wahnsinnig ernst! „Love and Friendship“ schert da etwas aus, da sind Chloe Sevigny und Kate Beckinsale zu Ironie fähig. Der Zynismus ist in der Austen-Verfilmung anders dosiert. Im Gegenzug unterlässt Stillman es, die Torheiten der Disco-Ära in „The last days“ zu verspotten. Hätte er es getan, wäre der Film bestimmt erfolgreicher gewesen. Aber er ist keiner, der dem Publikum schmeichelt. Dünkelhaft ist er auch nicht. Brillant finde ich beispielsweise, wie er die Musik einsetzt. Mit welchem Stück fängt man an, welche Disco-Hymne soll den Geist der Epoche repräsentieren? Stillman wählt „Doctor's Orders“ von Carol Douglas aus, der weniger verdrießlich als andere Songs der Zeit ist und nachdrücklich in den Film hineinzieht. In der zielstrebigen Naivität des Songs spiegelt sich bereits die seiner Figuren. Und er ist lang genug, dass er ganz ausgespielt werden kann, während Stillman die zentralen Charaktere vorstellt. Der Schnitt ist präzis darauf abgestimmt, die Instrumentalpassage zwischendrin tritt hinter die Dialoge zurück, dann taucht die Gesangsstimme wieder auf und rundet die Exposition ab.

Das Drehbuch verrät Stillmans großes Geschick, verschiedene Figuren in die reizvollsten Konstellationen hinein zu manövrieren. Immer wieder gelingt es ihm, vielversprechende Partner respektive Gegenspieler aufeinander treffen zu lassen. Diese Dialoge sind doppelbödig genug, damit Haltungen und Beziehungen sich innerhalb einer einzigen Szene wandeln können. Wie in „Metropolitan“ geht es um den Druck, den ein Milieu auf Zugehörige und Randständige ausübt. Stillman ist ein so bewundernswerter Ensemblefilmer, weil er ein Gespür dafür hat, welchen Einfluss eine Gemeinschaft auf individuelle Gefühle nehmen kann. Seine Filme münden in wundersam wehmütige Enden. Auch wenn man die Figuren nervig fand, fällt es doch schwer, sich von ihnen zu lösen. Man vermisst ihre Gesellschaft, sobald der Abspann beginnt.

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