Famos

Wenn ich bei der Übersetzung von Dino Buzzatis Kinderbuch "Das Königreich der Bären" ein Wörtchen hätte mitreden dürfen, trüge es einen anderen Titel. Er klingt wie etwas, das es längst schon gibt. 1962 war ich freilich noch zu jung, um Einspruch zu erheben. Auch die diesjährige Veröffentlichung von Lorenzo Mattotis Verfilmung auf DVD und Blu-ray geschah ohne mein Zutun; die Edition von Weltkino greift auf den alten Titel zurück. Dabei liegt seit 2005 eine neue Übersetzung vor, die den Titel "Wie die Bären einst Sizilien eroberten" trägt.

Er besitzt den Vorzug einprägsamer Originalität. Aber wenn es nach mir ginge, würden Buch und Film unter einer wortgetreuen Übersetzung des italienischen Originals »La famosa invasione degli orsi« firmieren. Jedoch würde ich das "famosa" nicht korrekt mit "berühmt" ins Deutsche übertragen, sondern vielmehr das "a" am Ende fortlassen. Ich liebe dieses helle, muntere Wort „famos“, obwohl ich viel häufiger dessen Synonyme "patent" oder "prächtig" verwende. Vielleicht mag es für heutige Ohren zu sehr nach, sagen wir einmal, Erich Kästner klingen. Aber aus ihm spricht eine kindliche Begeisterung, die prächtig zu Buzzatis erzählerischem Vorhaben passt. Auch das Sizilien im Titel sollte man nicht buchstäblich nehmen; mit dessen realen Landschaften haben die eroberten Berge schließlich wenig gemeinsam. Andererseits hat es damit nicht nur eine lautmalerische Bewandtnis.

Als Buzzatis Buch 1945 in Italien erschien, lag die alliierte Invasion Siziliens gerade zwei Jahre zurück. Vermutlich weckte der Begriff deshalb erfreuliche Assoziationen, wenngleich bestimmt nicht in allen Kreisen. Eine Befreiung ist auch das Ziel von Buzzatis Bärenarmee. Sie bricht auf, um Tonio, den Sohn des Königs Leonce, aus den Händen seiner menschlichen Entführer zu befreien. Trotz erbitterter Gegenwehr der Armee des finsteren Großherzogs gelingt es den einfallsreichen Invasoren, den verlorenen Prinz zu finden. Er fristet ein trauriges Dasein als Zirkusartist; immerhin nicht als Tanzbär, sondern als Trapezkünstler. Nach ihrem Sieg errichten die Bären ein eigenes Königreich (ganz falsch lag die erste Übersetzung nicht) und müssen feststellen, dass sie immer mehr menschliche Unarten übernehmen. Ein Gleichnis für Kinder und Erwachsene, durchaus pessimistisch in seinem zivilisatorischen und politischen Befund.

Das von Buzzati selbst illustrierte Kinderbuch ist also keine ganz so verblüffende Eskapade für den Autor von "Un amore" und "Die Tatarenwüste", wie man auf den ersten Blick annehmen würde. Ein unschuldiger Blick ist, um die nützliche Formel von Jacques Rivette zu zitieren, nicht zwangsläufig der Blick eines Unschuldigen. Friedenssehnsucht spricht aus ihm (wobei die Schlachtszenen reichlich martialisch sind), auch tiefe Wehmut. Zentrale Figuren sterben, aber es entsteht eine Vertrautheit mit der Transzendenz. Der Film ist ab sechs Jahren freigegeben, die Altersempfehlung lautet, wie für den Roman, ab acht. Das passt, denn "Königreich der Bären" verlangt nach einem anspruchsvollen Publikum.

Verblüffender als der Registerwechsel des Schriftstellers ist das Alter des Regisseurs, der mit 65 Jahren sein Langfilmdebüt gibt. Damit bricht Lorenzo Mattoti zwar keinen Rekord – ich glaube, der damals 83jährige Alain Cuny ist mit "L'Annonce faite à Marie" noch immer der Champion im Guiness-Buch -, aber bringt eine frische Reife mit. Bisher ist er bekannt als Comic-Künstler, der etwa mit Neil Gaiman graphische Romane verfasst hat und als Zeichner, von dem zahlreiche Titelblätter des "New Yorker" und anderer Magazine stammen. Das Kino hat er oft umkreist: mit eigener, schöpferischer Unbestimmtheit, aber auch sehr konkret. An der vorletzten Adaption von »Pinocchio« war er federführend als visueller Berater und Szenenbildner beteiligt. Er hat 2007 eine Episode des Animationsfilm »Peur (s) du noir« inszeniert; seine bislang prominenteste Kinoarbeit sind indes die Zwischenstücke des Omnibusfilms »Eros« (2004). Beinahe könnte man sie als persönlichen Streifzug durch die Geschichte der erotischen Illustration begreifen. Sie muten wie Improvisationen an, die zwischen westlichen und asiatischen Ikonographien schillern. Tatsächlich gehen sie, im Wechsel der Zeichenstile, Techniken und Materialien, ein intimes Verhältnis zu den Episoden ein. Die dem von Wong Kar-Wai inszenierten Segment vorangestellte Passage gemahnt an die Kalligraphie; das Schwenken der Kamera über seine Schwarzweiß-Schraffuren verbindet diese mit der Episode von Steven Soderbergh; die Bedeutung, die das erotische Element des Wassers bei Michelangelo Antonioni haben wird, kündigt sich im Entracte an. In seinen mit Tusche, Wasserfarben oder Kreide gestalteten Intermezzi stellt Mattotti atmosphärische Bindeglieder her, an die sich ein Lied Caetano Velosos anschmiegt, dessen Textfragmente als sinnstiftendes Motto dienen.

Jetzt also endlich eine abendfüllende Eroberung des Kinos: auf eigene Rechnung, aber voller Respekt für Buzzatis Vorlage. Die Bären sehen anders aus als in dessen Illustrationen, besitzen eine rundlichere Leibesfülle (1945 war der Hunger in Italien groß) und kantige, sozusagen origamihafte Häupter. Sie bewegen sich in anderen Landschaften, die oft in monumentaler Flächigkeit gehalten sind und zuweilen an Giorgio de Chirico erinnern. Die visuellen Dimensionen, das Verhältnis von Figuren, Raum und Requisiten sind atemberaubend. Das Kleine und das Große bringen einander wechselseitig zur Geltung. Allein wegen der Totalen müsste man den Film anständigerweise auf einer großen Leinwand sehen.

Es ist eine Welt der Metamorphosen. Die Bären setzen Schneebälle strategisch ein, die das feindliche Heer überrollen; die vielfältige Fauna verwandelt sich: ein böser Troll wird zu einer riesigen Katze, eine Armee von Wildschweinen wird in Ballons verzaubert, eine gigantische Seeschlange kann bezwungen werden. Das sind Schrecknisse, mit denen ein junges Publikum umgehen kann. Wichtig ist auch, dass Verstorbene zu Geistern werden und regen Kontakt zum Diesseits halten. Angesichts des famosen Elans, mit dem die ursprünglich friedfertigen Invasoren in den Kampf ziehen ("Wenn wir sterben sollen, dann sterben wird als Bären!"), habe ich mich mitunter gefragt, wie er heute auf Kinder wirkt. Die verheerenden Schlachten werden auf poetische Weise entschieden.

Auf den Sieg folgen die Mühen der Ebene. Der zweite Teil des Films ist entschieden post-heroisch. Die Vermenschlichung der Tierwelt vollzieht sich in anderer Manier, als wir es von Disney gewohnt sind: Die Bären werden korrumpiert vom Wohlleben. Sie nehmen lauter menschliche Laster an, sind der Verlockung von Alkohol, Spiel- und Ruhmsucht ausgesetzt. Das Leben in den Bergen war einfacher. Im Kern ist dies eine Geschichte um Identität und Koexistenz. Den philosophischen Konsequenzen, die Buzzati/Mattoti daraus ziehen, kann man in jedem Lebensalter folgen.

Ein weiterer Kern des Films liegt darin, dass er das Erzählen selbst thematisiert. Mattoti und seine Co-Autoren (darunter Thomas Bidegain, der sonst mit Jacques Audiard arbeitet und im französischen Original eine der Hauptrollen spricht) haben eine Rahmenhandlung hinzuerfunden, in welcher der Gaukler Gedeone und seine Tochter Almerina (so hieß Buzzatis Frau, die Jahrzehntelang die Filmrechte nicht verkaufen wollte) einen alten Bären des nachts mit dem Bericht der famosen Invasion friedlich stimmen wollen. Ein Höhlengleichnis, bei dem man an Platon denken darf, aber nicht muss. Nach der Hälfte übernimmt der Zuhörer die erzählerische Stafette und eröffnet Innenansichten des Lebens im Königreich. Im Original wird er, das ist eine geniale Idee, von Jean-Claude Carriere gesprochen. In der italienische Fassung, das ist nicht weniger genial, leiht ihm Andrea Camilleri seine Stimme, der Erfinder von Commissario Montalbano.

Dieses Prinzip der narrativen Variation allein genügt Mattoti nicht. Er schafft eine wunderbare visuelle Entsprechung dazu. Die Geschichte wird graphisch auf mehreren Ebenen durch dekliniert. Zu der filmischen filmischen Gestaltung gesellt sich das Bühnenbild der Gaukler, das die Geschehnisse in einer anderen, sich agil wandelnden Anschaulichkeit interpretiert. Auch für Buzzatis Buchillustrationen findet Mattoti einen Platz im Film. Sie hängen im Palast des Bärenkönigs. Die unschuldigen Blicke kreuzen sich auf Augenhöhe. Welch schönere Ambition könnte ein Animationsfilm haben?

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt