Verwandelte Melancholie

Wären die gestern von der Bundeskanzlerin und den 16 MinisterpräsidentInnen getroffen Entscheidungen anders und nicht gegen den Kulturbetrieb ausgefallen, hätte ich Sie heute auf eine fabelhafte Filmreihe hingewiesen. Ich hätte freudig angekündigt, dass der November im Filmhaus Nürnberg wieder italienisch wird. Ersteres tue ich nach wie vor, denn bis Sonntag haben die Kinos Gnadenfrist. Aber wer weiß, wie viele Wochen dieser kinolose November dauern wird?

Im Prinzip könnten in Nürnberg also die ersten drei Filme der Valerio-Zurlini-Retrospektive noch laufen. Sie war chronologisch konzipiert, aber die ersten drei sind zugleich drei seiner besten: »Wilder Sommer«, »Das Mädchen mit dem leichten Gepäck« und »Tagebuch eines Sünders«. Zurlini ist hier zu Lande wenig bekannt, einige seine Filme liefen früher mal spät im Fernsehen, sind heute allenfalls als Importe zu bekommen. Eine vorzügliche Gelegenheit,  das Werk eines der ganz großen Regisseure Italiens zu entdecken. Hoffentlich kann die Reihe später fortgesetzt bzw. erneut aufgegriffen werden, dann werde ich mich ausführlicher mit ihm beschäftigen. Dafür erzähle ich heute von einer Begegnung.

Vor gut einem Jahrzehnt hatte ich die Gelegenheit, den Schauspieler, Produzenten und Jacques Perrin zu interviewen. Anlass war der Start von »Unsere Ozeane«, einem jener Naturfilme (»Mikrokosmos«, »Nomaden der Lüfte« etc.), mit denen er große Erfolge feierte. Er war ein sehr engagierter Gesprächspartner. Wir konzentrierten uns auf den neuen Film, es blieb keine Zeit, über andere Aspekte seiner fürwahr famosen Karriere zu sprechen. Sein noch immer jungenhaftes Gesicht ist Ihnen bestimmt aus „Cinema Paradiso“ bekannt, wo er in der Gegenwartsebene den Regisseur spielt, der vom Tod des Filmvorführers erfährt. Er ist oft bei Costa-Gavras aufgetreten (und hat dessen »Z« produziert), auch bei Jacques Demy (sein Sohn Maxence ist nach dem Matrosen benannt, den er in »Die Mädchen von Rochefort« verkörpert) und vielen anderen. Aber ein solches knapp getaktetes Pressejunket war eben kein Rahmen, um abzuschweifen. "Es war eine große Freude", sagte ich beim Händeschütteln, "den Darsteller und Produzenten von Zurlini kennenzulernen." Sein höfliches Abschiedslächeln verwandelte sich abrupt in ein strahlendes. Aber bevor er etwas erwidern konnte, scheuchte mich der Presseagent aus dem Hotelzimmer, der nächste Interviewer wartete bereits.

Ein paar Stunden später trafen wir uns zufällig auf einem Gang des Hotels wieder. "Haben Sie einen Moment Zeit?" fragte Perrin mit ernster Miene. Das erstaunte mich, denn er hatte sie sicher nicht während des Interviewmarathons, den er an diesem Tag absolvieren musste. Dass ich Zurlini erwähnte, hatte ihn etwas aus der Fassung gebracht. Sonst würde er auf lauter andere Leute angesprochen, mit denen er gearbeitete hatte, auf Costa-Gavras etwa oder Alain Delon oder Marcello Mastrioanni. Ob man sich in Deutschland denn überhaupt an diesen Regisseur erinnern würde? (Meine Antwort: siehe oben.) Perrin hatte ihm viel zu verdanken, obwohl er schon in ein paar französischen Filmen aufgetreten war (immerhin bei Marcel Carné und Henri Georges Clouzot), betrachtete er die Rolle in »Das Mädchen mit dem leichten Gepäck« als seinen Durchbruch.

"Bei ihm habe ich zum ersten Mal gespürt", erzählt er, "was ein Regisseur aus Schauspielern herausholen kann durch die Art, wie er sie filmt." Zurlini habe eine ganz eigene Art gehabt, den Blick seiner Darsteller einzufangen. "Dabei gelang ihm das Schwerste überhaupt, eigentlich das Unmögliche: die Seele zu filmen." Lorenzo, seine Figur in »Das Mädchen«, sei ein Alter ego von Zurlini, als der 16 war und seine Unschuld und Illusionen verlor. In ihrem nächsten gemeinsamen Film »Tagebuch eines Sünders« gab er ihm zwei Jahre die Chance, noch ganz andere Nuancen zu zeigen. In »Die Tatarenwüste«, wo Perrin auch als Produzent fungierte, konnten sie 1976 eine Art Summe ziehen, da beschreitet er als Darsteller einen Parcours von Unschuld zu Entzauberung, vom jugendlichem Elan zum Siechtum hin.

Er genoss es, mit Jemandem zu sprechen, dem Zurlinis Filme viel bedeuteten. "Aber wenn ich heute an Valerio denke", sagte er, „dann treten die Filme immer mehr zurück. Sie existieren, wir können sie weiterhin sehen. Ich vermisse den Menschen. "Ich vermutete, dass Zurlini ein großer Melancholiker war. Das spiegeln seine Filme zumindest wider. Ja, erwiderte Perrin, aber diese Schwermut sei einzigartig gewesen: „Er konnte sie mit der Kamera in etwas anderes verwandeln, das schwer greifbar ist." Was ich in denn darin sehen würde, wollte er wissen. Auch ich blieb im Vagen: "Eine Lebendigkeit, die nicht trotzig ist, fast ein Einverständnis mit dem Leben." Er erwiderte nichts darauf. Nach einer Pause meinte er: "Ich habe nie wieder einen Menschen getroffen, der so war wie er.“ Der Presseagent seines Films erschien, aber damit konnten wir es noch nicht bewenden lassen. Er überlegte weiter. "Ich glaube, was ihn so unverwechselbar machte, war die Tiefe, die man in ihm spürte." Sein Lächeln kehrte zurück und die Verpflichtungen, die er an an diesem Tag hatte, holten ihn wieder ein.

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