Transatlantische Träume

»Judy«, der gestern bei uns anlief und am Sonntag eine gewisse Rolle bei den "Golden Globes" spielen könnte, ruht nicht allein auf Renée Zellwegers Schultern. In meiner Kritik im aktuellen Heft versäumte ich zu erwähnen, wie gut Jessie Buckley als Rosalyn, Garlands Betreuerin in London, ist. Sie spielt hervorragend deren Unschlüssigkeit, was ihre Aufgabe mehr verlangt, Einfühlungsvermögen oder Strenge?

Ihr Arbeitgeber, der Impresario Delfont, spielt im Film demgegenüber eine untergeordnete Rolle. Ich war erstaunt, dass Michael Gambon ihn verkörpert. Ich dachte, er habe sich von der Schauspielerei zurückgezogen, seit ihn sein Erinnerungsvermögen auf der Bühne immer häufiger verlässt. Er hat nur zwei Auftritte, in denen seine Meisterschaft diskret aufblitzt. (Es gibt keine kleinen Rollen, nur gute oder schlechte.) Gambons zweite Szene ist besonders interessant, weil Delfont sich dort in die Riege der strengen Vaterfiguren einreiht, auf deren Nachsicht Garland hoffte. "Can you forgive me?" fragt sie, nachdem sie einen Bühnenauftritt geschmissen hat. "It is forgotten", versichert der Impresario ihr, wobei Gambon einen reichen Subtext beherrschten Zorns erahnen lässt. Der Agent und Konzertveranstalter kannte die Sängerin noch aus besseren Zeiten, den 50ern, in denen sie freilich kaum weniger zerrissen und unberechenbar war. 

Dieser Bernard Delfont taucht noch in einem anderen Film über amerikanische Stars auf, die ihr künstlerisches Gnadenbrot in England fristen müssen: »Stan & Ollie«, über die desaströse letzte Tournee des Komikerduos. Dort ist Belfont ein unsicherer Patron, der Laurel und Hardy bald im Stich lässt, um seinen neuen Schützling zu protegieren, den Komödianten Norman Wisdom. Als der Film im letzten Jahr herauskam, nahm ich noch wenig Notiz von dieser Figur. Erst später erfuhr ich, dass er zu den mächtigsten Gestalten im britischen Showbusiness und zeitweilig auch der Filmbranche gehörte. In einem Artikel des "Guardian" über George Harrisons Produktionsfirma "HandMade Films" erfuhr ich, dass er in den 70er Jahren die Filmsparte des Konzerns EMI leitete. Eher zufällig geriet das Drehbuch zu »Das Leben des Brian« auf seinen Tisch und er stoppte die Produktion augenblicklich, weil er es für Blasphemie hielt. Der Monty-Python-Fan George sprang ein und finanzierte den Film mit einer Hypothek, die er auf sein Haus aufnahm (was ich verwunderlich fand: Sollte der Ex-Beatle wirklich nur ein Haus besessen haben? Und kein für solche Notfälle ausreichendes sonstiges Vermögen?) Noch mehr erstaunte mich, dass Belfont der Bruder des Film- und TV-Produzenten Lew Grade war, über dessen großspurige Pläne und Aktivitäten ich in den 70er als treuer Leser der Zeitschrift "Photoplay" immer bestens informiert gewesen war.

Zwei Brüder, die über die Geschicke praktisch einer gesamten nationalen Filmindustrie entschieden (die Rank Organisation spielte in den 70er Jahren kaum mehr eine Rolle, und wichtige Firmen "Goldcrest" oder eben "HandMade" wurden erst spät im Jahrzehnt gegründet)? Da musste ich sofort an die Seydoux-Dynastie in Frankreich denken, Nicolas und Jérome, denen "Gaumont" respektive Pathé gehören. Auch zu dem dritten Bruder, Michel, der viel Geld mit dem "Dune"-Projekt von Moebius und Jodorowsky verlor und sich mit "Cyrano de Bergerac" sanierte, gibt es ein Pendant: Leslie Grade, der in den 60ern eine erfolgreiche Serie von Cliff-Richard-Komödien lancierte. Auch zum Dynastischen findet sich eine Entsprechung: Leslies Sohn Michael leitete mehrere britischen TV-Sender.

Im Gegensatz zu den Seydoux' wurden die Grades jedoch nicht mit tiefen Taschen geboren: Sie wurden als Winogradskys in der Ukraine geboren und wuchsen im armen Londoner West End auf, wo der Vater ein Kino leitete. Die Jungs verließen rasch die Schule. Louis/Lew machte sich in jungen Jahren einen Namen als Charleston-Tänzer, bevor er in den 30er Jahren mit Leslie und Joe Collins (dem Vater von Joan & Jackie) eine Künstleragentur gründete, zu deren Klienten Laurence Olivier und Ralph Richardson zählten. Kurz zuvor war Bernard zu einem Pionier der Fernsehübertragung geworden, trat ebenfalls, nach einem Namenswechsel, als Tänzer und dann als Teil des Komikerduos "The Delfont Boys" auf. Auch er arbeitete als Agent (nicht immer erfolgreich: Wisdoms mögliche Hollywoodkarriere vereitelte er durch horrende Gagenforderungen), wurde nach dem Weltkrieg Theatermanager. Er holte US-Stars wie Lena Horne ins West End und organisierte die ersten Fernsehübertragungen von Varieté-Shows.

Ich merke, diese Familiengeschichte wird zu lang für nur einen Eintrag. Deshalb berichte ich Ihnen morgen von den weiteren anglo-amerikanischen Abenteuern, von Aufstieg und Fall dieser erstaunlichen Dynastie

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