Die Gunst der Stunde

Meine erste Reaktion war blanke Entgeisterung, als ich von den Diversitätsregeln erfuhr, welche die Filmakademie in Los Angeles fortan den Kandidaten für die Hauptkategorie "Bester Film" auferlegt. Als ich sie dann genauer studierte, entwickelte ich noch Fluchtphantasien: Mir kam der Musicaltitel  "Stop the World – I want to get off" in den Sinn..

Das war gestern. Heute sehe ich es etwas anders. Falls Sie noch nichts über diese "historischen Reform" gelesen haben, werfen Sie lieber erst einmal einen Blick in die Pressemitteilung der "Academy" (sie ist beispielsweise in der taz nachgedruckt: https://taz.de/Diversitaet-bei-Academy-Awards/!5713433/), bevor Sie weiterlesen. Meine anfängliche Entgeisterung – sie keineswegs ganz verflogen – entzündete sich an dem Eindruck, dass es hier ausschließlich im Politik geht und beileibe nicht um die Kunst, welche die Filmkakademie immerhin in ihrem Titel trägt. Nun, nicht ausschließlich um Politik, sondern auch um das Image. Bei der Oscar-Verleihung geht es ja traditionell darum, ein idealisiertes Bild der amerikanischen Filmbranche zu zeichnen: eine, die humanistische Werte hochhält und für die Dauer einer Gala mal nicht so sehr an die Einspielergebnisse denkt. Das geschah bislang meist um den Preis einer tüchtigen Sentimentalisierung. An deren Stelle soll nun puritanische Korrektheit treten. Vermutlich erhofft man sich damit den Zutritt zu einer gänzlich keimfreien Welt, in der sich die Academy keine Vorwürfe mehr machen lassen muss, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht gerecht zu werden.

Die Academy beruft sich explizit auf das System der three ticks, der drei Häkchen, welches das Britische Film Institute vor genau sechs Jahren etablierte. Damals hatte es das verdienstvolle "UK Film Council" gerade als Förderinstitution ersetzt. Vom September 2014 an sollten nur noch Filme gefördert werden, die zwei von drei Kriterien der Repräsentation von Randgruppen erfüllen. Bislang kann man weder sagen, dass dies System gescheitert ist, noch dass es der britischen Filmindustrie radikale gesellschaftliche Fortschritte beschert hätte.Die sind nie genug. Seinerzeit fand ich die Idee einerseits naiv und andererseits einen gefährlichen Ausdruck jenes vormundschaftlichen Geistes, der in der britischen Filmbranche Tradition hat: In keiner anderen westlichen Demokratie hielt sich so beharrlich die Gepflogenheit, einem Film das Freigabesiegel der Zensurbehörde voranzustellen. Diese paternalistische Haltung erlebte in den Direktiven des Instituts eine mulmige Wiedergeburt. Sie war geprägt von einem tiefen Misstrauen gegenüber etwas, das sich einer bürokratischen Kontrolle entzieht: der Kreativität.

Unlängst jedoch haben gerade erst deutsche Förderinstitutionen (in Schleswig Holstein, wenn ich es recht erinnere) das Modell der Häkchen-Vorzensur übernommen. Die Risiken sind offensichtlich, aber hoffentlich nicht unausweichlich: blutleere Alibirollen, ein Abstieg auf das Niveau deutscher TV-Seifenopern, die sich ihrer Quotenerfüllung in Sachen ethnischer Herkunft, sexueller Orientierung oder Behinderung rühmen dürfen. Als Angehöriger sowohl einer Mehrheit (weiß, männlich, älter) wie einer Minderheit (machtloser Filmkritiker) bin ich kein Gegner gesellschaftlicher Repräsentanz im Kino. Vielmehr habe ich mich mächtig über die Preise gefreut, die »Moonlight«, »Les Miserables« oder »Parasite« gewonnen haben und geärgert, dass „Burning“ von Lee Chang-dong weitgehend übergangen wurde.

In den sechs Jahren seit dem Vorstoß des BFI hat sich die Welt verändert. Gerade findet eine späte Entdeckung des systemischen Rassismus' in den USA und anderen Nationen statt. Darauf kann und sollte die Filmindustrie reagieren. Aber sie muss es nach künstlerischem Gusto tun dürfen, aus eigenem kreativem Impuls. Erzählerische Moral ist keine Frage der Arithmetik. Das vergisst man leicht in einer Zeit, in der man Verantwortung gern an Algorithmen abtritt. Gewiss, Diversität ist ein fundamentaler Wert. Aber zugleich ist sie auch ein Mode-Thema. Ja, jetzt wird es heikel. Aber ich habe den Eindruck, die politische Erregbarkeit hat gerade Konjunktur. Wir leben in einem dirigistischen Zeitalter: Es fordert rasche Konsequenzen. Das kann sich auch rasch erschöpfen und auf den nächsten Buzz horchen. Ich finde nicht, dass das auf Kosten einer ungebundenen künstlerischen Intuition gehen sollte.

Nun sitzen in der Führung der "Academy of Motion Arts and Sciences" aber nicht nur Bürokraten und Manager, sondern eben auch und vor allem Filmkünstler. Sie sind offenbar einverstanden mit dem neuen Regelwerk. Die Branche steht hinter der Initiative, versichert die Akademie. Der muss man nicht bloß Opportunismus unterstellen. Natürlich ist es für KünstlerInnen unerträglich, wenn ihnen vorgeschrieben wird, dass soundsoviele Charaktere einer unterrepräsentierten Minderheit angehören oder ihre Geschichten gefälligst um deren Lebenssituation kreisen sollen. Aber es wird auch solche geben, die sich genau dafür interessieren. Ihnen sollten keine Barrieren im Weg stehen. Und es wäre schön, wenn sie mehr würden.

Wenn ich auf künstlerischem Freiraum beharre, denke ich für einen Moment auch an Hollywoods Genrekino, an die B-Pictures etwa, die klare Vorgaben hatten, Muster und Konventionen, die man unterlaufen konnte, wenn man klug und talentiert genug war. Aber Schmuggelware kann kein Maßstab mehr fürs Gegenwartskino sein. Zu dieser ratlosen Zeit passt, dass das Regelwerk der Academy nicht strikt, sondern flexibel ist. Zwei von vier erfüllten Kategorien genügen, um sich als "Best Picture" zu qualifizieren. Die Aufweichung der Prinzipien fiele leicht, die Industrie kann sich absichern mit hehrem Anschein. Da würde womöglich schon eine Quote im Produktionsstab oder Vertrieb genügen. Das könnte man mit Praktikanten lösen. Die Arithmetik gebiert zynische Gedankenspiele. Warten wir ab, was die FilmemacherInnen ihnen abtrotzen.

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