Die Augen werden groß und größer

Derzeit müssen Filme Longseller sein. Hoffentlich dürfen sie es danach bleiben. Die Sitzkapazitäten der Kinos könnten die Verleiher zumindest kurzfristig zwingen, in längeren Zeiträumen zu denken. Das erste Wochenende würde dann nicht mehr über Gedeih und Verderb entscheiden. Die Filme dürften vielleicht wirklich Zeit haben, ihr ihr Publikum zu finden.

Solange noch nicht alle Bundesländer die Wiedereröffnung erlaubten, gab es gleitende Starts. Die Filme gingen auf Tournee, sie machten Station, wo immer man ihnen die Tür öffnete. Ab Donnerstag gehorchen sie wieder Bundesstarts. Wird damit ein neues Kapitel beginnen? Auf „Zeitonline“ las ich, dass Hamburger Kinobesitzer über den Mangel an neuen Filmen klagten. Sehnen sie die Verdrängung schon wieder herbei? Als am 22. Juni in Frankreich die Kinos wieder aufschlossen, standen ihnen 40 Neustarts ins Haus! Ganz so schlimm wird es bei uns wohl nicht werden - auch wenn sich am Grundproblem des Überangebots auf absehbare Zeit nicht wesentlich etwas ändern wird.

In den USA, hat man den Eindruck, schaut alles auf „Tenet“, als würde Christoph Nolans Film über die Zukunft des Kinos entscheiden. Jetzt wird sein Starttermin ständig verschoben. Die Sorge ist groß. Ich denke, Nolan wird sich an seinem großen Vorbild Kubrick orientieren müssen, dessen Filme sich in der Regel erst als Longseller rentierten. Meine zugegebenermaßen idealisierte Vorstellung der Tournee hat selbstverständlich Nachteile. Die Filme müssen sich selbst helfen, insbesondere solche, die auf das Wohlwollen der Kritik angewiesen sind. Es wäre beispielsweise interessant zu erfahren, wie sich Ulrike Ottingers „Paris Caligrammes“ in den letzten Wochen geschlagen hat. Der Verleih hat ihn, nachdem er im März kurz anlief, am 11. Juni neu gestartet. Ihm müsste die Entschleunigung eigentlich gut bekommen: Er hat es nicht eilig. Die Regisseurin nimmt sich Zeit, genauer: mehrere Zeiten. Sie erzählt von zwei genau umrissenen Epochen, den 1960er Jahren und der Gegenwart, sowie von der Zeit davor und dazwischen.

Als ich ihn jetzt sah, konnte ich nicht entscheiden, ob seine Perspektive die Rück- oder die Vorausblende ist. Jetzt hängen in Berlin wieder die Filmplakate aus, ein zweifaches Déjà vu, denn auf Anhieb sehen sie genauso aus wie die Plakate, die vor einigen Monaten noch Ottingers gleichnamige Ausstellung annoncierten (siehe „Erinnerungen für morgen“ vom 6.9. 2019). Das wiedereröffnete „Klick“ umfängt die Reprise in Charlottenburg mit einer umfangreichen Retrospektive; auch in memoriam Tabea Blumenscheins.

Ausstellung und Film sind ungleiche Geschwister, die einander ähneln. Der Titel gewinnt im Film noch an Bedeutung hinzu, denn „Caligrammes“, Appolinaires Gedichte vom Frieden und Krieg, nehmen ästhetisch vorweg, was Ottinger in ihrer filmischen Spurensuche umtreibt: Sie sind Zeichnung und Text in einem und verkörpern so den Dialog, in den sie Text und Bild verstricken will. Ihr Erzählkommentar aus dem Off ist ein konstituierendes Element. Sorgfältig legt sie sich Rechenschaft ab über die, die sie einmal war, und die, die sie heute ist. Ottingers Duktus ist bedächtig, steht also eher im Lager des Heute, schafft aber nur einen sachten Abstand zu dem Elan, mit dem sie ihre Bildungsabenteuer damals bestritt. Sie liest den Text als Autorin, nicht als Sprecherin. Wie mag der Kommentar wohl in der französischen und englischen Fassung des Films klingen, wo Fanny Ardant respektive Jenny Agutter der Regisseurin die Stimme leihen?

Auf Ottingers Worte habe ich beim Sehen gern gehört. „Meine Augen wurden in Paris groß und größer“ sagt sie gleich zu Beginn. Der Komparativ ist bezeichnend, ja unverzichtbar, denn jeder Moment, den sie in Paris verbringt, bringt einen Zugewinn. Ihr Horizont erweitert sich „geradezu explosionsartig“. Allerorten gibt es noch mehr zu sehen, zu entdecken und zu begreifen. Die ersten, entscheidenden Wegmarken dieser Schule des Schauens und Reflektierens waren mir aus der Ausstellung vertraut: Fritz Picards Buchhandlung, in der sich die Exilanten und die Nachbarn trafen, sowie Johnny Friedländers Atelier, wo sie das Handwerk der Radierung lernte. Im Film gesellt sich eine dritte Begegnung hinzu: mit Willy Maywald. Er ist Hausfotograf bei Christian Dior, als Porträtist stehen ihm Giorgio de Chirico und andere Modell. Die mondän-exzentrischen Partys, die er in seinem Atelier veranstaltet, machen so starken Eindruck auf die junge Künstlerin, dass sie später zur Inspiration einer Szene in „Freak Orlando“ geraten. Die Pariser Künstlerfreunde wiederum, von denen sie oft spricht, hat sie noch daheim in Konstanz kennengelernt, wo diese ihren Militärdienst leisteten. In dieser Epoche, oder ihrer Erinnerung an sie, wird ein Generationenvertrag der alten und der jungen Avantgarde besiegelt. Später, im Tumult des Mai 1968, wird es auch zu Brüchen kommen. Aber in der Ablehnung des Algerienkrieges und dem Entsetzen über das Massaker, das der verdiente Vichy-Beamte Maurice Papon 1961, nun Polizeipräfekt von Paris, unter Demonstranten anrichten lässt, ist der Vertrag noch intakt.

Algerien und die Kolonialgeschichte überhaupt sind für Ottinger in jedem Winkel der Stadt präsent. Die „Erkundungen zum Alltag“, von denen Claudia Lenssen in ihrer Filmkritik im Märzheft schreibt, stoßen sie unweigerlich darauf. Diese Überlegungen sind noch ganz aus der Gegenwart der frühen 60er getroffen, als das einvernehmliche Schweigen über die „Ereignisse“ gebrochen werden musste. Ottinger stülpt keine heutige Sicht darüber, obwohl ihre Gedanken aktuellen Bestand haben. Dieses Motiv ist eine wichtige Eintrübung. Denn das Paris, das sie ansonsten im Film entdeckt, ist staunenswert identisch mit seinen Klischees. Recht eigentlich ist es sogar das Paris aus den anderthalb Jahrzehnten, die Ottingers Ankunft vorausgingen, das des schwarzpulloverigen Existenzialismus' von Juliette Gréco. In der Tat lässt es sich mühelos mit Chansons evozieren. Zauberhaft, wie plötzlich Jacques Dutroncs „Il est cinq heures – Paris s' eveille“ erklingt. Bei Piafs „Non, je ne regrette rien“ wird es komplizierter, da ist die Folklore politisch vergiftet. Ich mag es sowieso nicht, für mich war das immer zu viel Selbstvergewisserung. Dass Piaf es während des Algerienkriegs der französischen Fremdenlegion widmete, war mir unbekannt: ein Zugewinn.

Auf das Kino kommt Ottinger erst spät in „Paris Calligrammes“ zu sprechen. An Henri Langlois' Cinémathèque führte kein Weg vorbei. Zwei-, dreimal in der Woche war sie dort, besuchte vor allem Retrospektiven, weil sie dabei stilistische Entwicklungen und Besessenheiten nachverfolgen konnte: eine kluge, schon zielstrebige Kinogängerin. Aber die Cinémathèque erscheint im Film nicht als nachträglich fingierte Konsequenz ihres Lebenswegs, sondern bildet die Brücke zu anderen offiziellen Institutionen, etwa der Nationalbibliothek. Mitte der 60er ist noch offen, was aus ihr werden wird. Umso bemerkenswerter fand ich die Bilanz, die sie aus dem Mai 68 zieht. In ihren Augen wird er rasch zu einer Periode der ideologischen Verhärtungen. Bei aller Entzauberung wiederum ein Zugewinn: Dass Daniel Cohn-Bendit in der Presse stets als juif allemand tituliert wird, versetzt auch die alten Exilanten in Schrecken. Für sie geht eine Ära zu Ende, sie kehrt nach Deutschland zurück. Aber Paris hat sie im Gepäck: als eine Schatztruhe fortwirkender Erinnerungen. Allein schon wegen der emsigen, vergnügten Straßenreiniger von der Place Furstemberg war es diese lange Reise wert.

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