Die Alternative

Man muss kein Monarchist sein, um mitzufiebern, ob Colin Firth in »The King's Speech« die entscheidenden Sätze vollendet, ohne zu stottern. Es hilft natürlich, wenn man zur Sentimentalität neigt. Der Film gibt sich ungeniert als das, was man im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch "inspirational" nennt. Dass diese inspirierende Wirkung weit komplexer als der Film selbst ist, wurde mir klar, als ich las, welche Bedeutung er für Joe Biden besitzt.

Der demokratische Präsidentschaftskandidat stottert seit seiner Kindheit. Besonders der Konsonant "s" machte ihm damals zu schaffen. Als umsichtiger Populist hat er sein Stottern zu einem subtilen Wahlkampfthema gemacht: nicht als Erfolgsgeschichte einer Heilung, sondern einer schwierigen, fortdauernden Therapie. Er hat es nicht zugelassen, darin steckt eine sehr amerikanische Botschaft, dass diese Störung seines Redeflusses über sein Leben bestimmt. Vielleicht spekuliert er auch darauf, dass man Stotterern gern Sanftmut, eine besondere Behutsamkeit unterstellt, ein außerordentliches Feingefühl.

Biden ist bekannt und auch gefürchtet für seine emotionalen, sprachgewandten und oft sehr langen Reden. Sein Sprachduktus und -tempo macht vielen Beobachtern Sorgen: Man traut ihm nicht recht zu, die Wähler mitzureißen. Mit besonderer Spannung wurde deshalb seine Ansprache auf dem Nominierungsparteitag der Demokraten im Sommer erwartet. Er hielt eine Rede von geradezu capraeskem Pathos, in der er für Reformen warb, die an Roosevelts New Deal erinnerten. Danach bekam er glänzenden Kritiken: Er hatte die Aufgabe bestanden. Der Mann, der sich für jeden Satz innerlich sammeln muss, verstand es, die Menschen um sich zu sammeln. Ein emotionaler Höhepunkt des Parteitags war zweifellos die wackere Videobotschaft des stotternden Jungen, dem er als Vorbild dient.

In den letzten Wochen stieß ich auf zwei exzellente Artikel im "New Yorker" und in "The Atlantic", deren Autoren Nathan Heller und John Hendrickson sich, nicht zuletzt aus persönlicher Betroffenheit als Stotterer, ausführlich mit Bidens verbalen Strategien beschäftigen. Sie haben akribisch, fast obsessiv, studiert, wann er Pausen zum Atemholen setzt, wie er Anlauf nimmt für problematische Wörter oder rasch Alternativen für diese sucht. Man gewinnt den Eindruck einer unablässigen Geistesgegenwart und andauernden Wachsamkeit: Seine Zunge könnte ihm jederzeit einen Streich spielen. Auch ein Stotterer, dessen Rede flüssig ist, schreibt Heller, verliert nie die Wahrnehmung dessen, was er sagt. Fürwahr, ein US-Präsident, der sich seine Worte genau überlegt, wäre eine willkommene Abwechslung.

Bei Hendrickson erfuhr ich, dass Biden einer von drei Millionen Amerikanern ist, die unter Balbutie leiden (weltweit sind es 70 Millionen). Damit haben auch Bruce Willis, Samuel L. Jackson und eine der markantesten Stimmen der Filmgeschichte, James Earl Jones, gekämpft. Jones wird mit den Worten zitiert: "I'm not cured, I just work with it." Das Kino kann helfen, diese Störung zu überwinden. Ein bekannter französischer Schauspieler, den ich mehrmals interviewt habe, stottert beispielsweise heftig. Aber sobald eine Kamera läuft, spricht er fehlerfrei. Das Stottern bestimmt seine Karriere nicht.

Joe Biden schaut sich laut Hendrickson »The King's Speech« häufig an; manchmal zusammen mit seiner Enkeltochter. Er erriet sofort, dass der Drehbuchautor von »The King's Speech«, David Seidler, selbst stottert. Durch ihn kam er an die Kopie einer alten Rede von King George VI heran und stellte fest, dass dieser seine Manuskripte genau so mit Atempausen und Betonungen annotiert, wie er selbst es seit Jahren tut.

Der englische Monarch musste mit dem entscheidenden Medium seiner Epoche fertig werden, dem Radio. Wie wichtig dessen Beherrschung für seine Untertanen war, hat der Filmkritiker Philip French in einem bewegenden Artikel im "Guardian" mit dem Titel "My Life as a stammerer" geschildert. Die königlichen Ansprachen spendeten ihm und seiner Familie in den Weltkriegsjahren Mut und Hoffnung. Ihre Botschaften waren für sie von patriotischer wie privater Relevanz; für den kleinen Philip war King George eine Leitfigur, weil er sein Stottern meisterte. Wenn ihm das gelang, dann konnte die Nation auch die schweren Aufgaben bewältigen, die vor ihr lagen. French verweist auf eine schöne Szene in John Boormans »Hope and Glory«, die genau dieses Gefühl widerspiegelt. Die Familie hat gerade die Weihnachtsansprache des Monarchen gehört und der Vater stellt voller Genugtuung fest, dass er in diesem Jahr schon viel besser war. Sein Sohn, Boormans kindliches Alter-ego, erwidert verschmitzt, das würde er jedes Mal sagen. "Das Land und der König sind eins", weist ihn der Monarchist zurecht. "Wenn er stottert, wanken wir."

Die royale Inspiration kann durchaus eine demokratische Ausstrahlung haben. Für die österreichischen Filmemacherinnen Birgit Gohlke und Petra Nickel war »The King's Speech« der Auslöser, ihren Dokumentarfilm »Mein Stottern« zu drehen. Auch er ist aus persönlicher Betroffenheit gedreht: Die Filmstudentin Gohlke stottert seit ihrer Kindheit und Nickel arbeitet als Logopädin. Sie waren beeindruckt, wie ernsthaft hier das Thema verhandelt wird, das ihm Kino sonst eher Anlass für Spott oder das Attribut finsterer Schurken ist.

Der Satz, den ich aus »The King's Speech« mitgenommen habe, lautet "We will prevail." Ich war überglücklich, als Firth die Hürde des "p" überwand! Er kommt mir häufig in den Sinn. Dabei habe ich ihn bislang immer missverstanden und war der Ansicht, "prevail" würde "überdauern" bedeuten. Nein, es bedeutet "herrschen", "die Oberhand gewinnen"und "siegen". In diesen bangen Tagen Anfang November würde ich ihn gern Joe Biden in den Mund legen.

 

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