Auch sie sind wieder am Start

Noch eine französische Renaissance, wiederum mit prunkender Besetzung: Die "Cahiers du cinéma" melden sich zurück. Sie laufen wieder, schreibt der neue Chefredakteur Marcos Uzal verheißungsvoll im Editorial der Juni-Ausgabe.

Der Neuanfang ist, ikonografisch und auch sonst, symbolisch aufgeladen. Auf dem Titel prangt ein Szenenfoto aus »Les derniers jours du monde«, das Mathieu Amalric und Clotilde Hesme zeigt, die im Adams- bzw. Evaskostüm am Seineufer entlang rennen. Sie halten ihre Hände fest. Den Film der Brüder Larrieu findet Uzal sehr unterschätzt (bei uns kam er gar nicht heraus); in ihm gehe es nicht um eine Flucht, sondern um Elan. Das Weltende ist vorerst überstanden. Das verträgt sich gut mit dem ungeduldigen Motto des Heftes, das "Quand est-ce qu'on sort?" lautet, was sich mit "Wann kommen wir wieder heraus?" oder "Wann gehen wir wieder aus?" übersetzen lässt.

Im Mai war kein Heft erschienen, was es in den fast 70 Jahren des Bestehens der Zeitschrift so noch nicht gegeben hat. Aber nachdem die vorherige Redaktion aus Empörung über die Pläne der neuen Eigentümer zurücktrat ("Der Lärm nach der Stille" vom 3. 2.) musste man sich in der Rue Claude Tillier im 12. Pariser Arrondissement erst einmal neu sortieren. Nicht alles wird auf Anfang gestellt. Einige aus den "Cahiers" vertraute Namen (etwa der von Élisabeth Lequeret) tauchen wieder auf,. Offenbar gilt die Demission, wie überall zu lesen war, nicht für die gesamte Redaktion. Uzal arbeitete zuletzt als Kritiker für "Libération", davor gehörte er zum Redaktionskomitee von "Trafic" und anderen Publikationen, die nicht in dem Verdacht stehen, Werbeorgane der französischen Filmwirtschaft zu sein, sondern in denen Hochleistungsfilmanalyse geleistet wird. Auch die neuen "Cahiers" sollen eklektisch bleiben: Unterschiedliche Temperamente wie Saul Bass, Stanley Donen, Tobe Hooper, Sarah Maldoror und Patricia Mazuy begegnen sich in der Juninummer.

Die Zeitschrift nimmt ausführlich Abschied von Michel Piccoli, auch von diversen anderen, weit weniger bekannten Filmkünstlern, darunter Bruce Baillie, dem Uzal und Apitchatpong Weerasethakul eine Hommage widmen. Der Themenschwerpunkt liegt auf Filmsehen in Zeiten von Corona. Es gibt zahlreiche Kritiken, zu Büchern, DVDs und Serien, aber eben nicht nur zum Heimkino. Im "Journal" werden Nachrichten aus aller Welt nicht nur vermeldet, sondern vertieft; insbesondere aus Brasilien und Moskau. Zwei Texte gewähren Einblick in die Werkstatt des großen Schnittmeisters Yann Dedet. Kein Zweifel, die aktuelle Ausgabe wurde aus der Not, aber auch aus immenser Freiheit geboren.

Auch im Interview mit "Libé", das vor einigen Tagen erschien, tritt der neue Chefredakteur selbstbewusst auf. Wenn die neuen Besitzer wirklich nur ein Schaufenster des heimischen Kinos im Blick gehabt hätten, wären sie nie auf die Idee gekommen, einen wie ihn zu nehmen. Es ist nicht auszuschließen, dass die Besitzer dies offenen Auges taten. Die "Cahiers" werden ein Inbegriff der französischen Kritik bleiben, versichert Uzal. Wohin sie laufen? Dorthin, wo interessantes Kino entsteht, erst recht im Ausland - was man durchaus als eine Spitze gegen die erklärten Wünsche der neuen Besitzer lesen darf. Deren Einfluss, zumal den der beteiligten Filmproduzenten, redet Uzal klein. Die besäßen gerade einmal 12 Prozent des Kapitals. Sorge bereitet ihm deren Engagement nicht, warum sollte die Welt der Produzenten nicht der der Kritiker begegnen dürfen? Die momentane wirtschaftliche Situation des Verlages beschreibt er als fragil. Gleichwohl erwecken die "Cahiers" im Juni den Eindruck einer klugen, traditionsbewussten Entfesselung.

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