Im kleinen Reich großer Musik

Es war ziemlich ausgeschlossen, dass aus Philippe Sarde je etwas anderes als ein Musiker werden konnte. Er wurde, wie er bei unserer ersten Begegnung sagte, quasi im Orchestergraben geboren: Seine Mutter war Opernsängerin und sein Pate der große Georges Auric. Als seine Mutter einmal die Carmen sang, faszinierte ihn der Dirigent der Oper so sehr, dass der spätere Filmkomponist sich daheim aus der Küche Spaghetti holte und mit ihnen übte.

Andererseits wurde aus seinem jüngeren Bruder Alain einer der wichtigsten Produzenten im französischen Kino. Dessen Erfolge betrachtete Philippe zunehmend als Ärgernis. Bei unserem ersten Treffen schien der schmächtige, rundliche Mann vor Selbstbewusstsein zu strotzen und gleichzeitig von rätselhaften Zweifeln geplagt zu werden. Diese hielten ihn nicht davon ab, rund 300 Filmpartituren zu schreiben, darunter »Das große Fressen«, »Der Mieter«, »Music Box« und »Die Prinzessin von Montpensier«. Heute Abend erhält er auf dem großartig filmmusikaffinen Festival in Gent einen Preis für sein Lebenswerk. Eine wohlverdiente Ehrung, aber ich bin nicht sicher, ob er sie tatsächlich persönlich entgegennehmen wird, denn er verlässt sein Reich im 17. Pariser Arrondissement nur ungern (oder nur auf höchst unorthodoxe Weise, aber davon später mehr). Der versierte Dirk Brossé wird eine Auswahl seiner Stücke dirigieren.

Ich lernte ihn im Dezember 1992 kennen. Bertrand Tavernier, mit dem er oft arbeitet, hatte den Kontakt zu ihm hergestellt. Ich interviewte ihn für eine Sammlung von Werkstattgesprächen, mit denen Lars-Olav Beier und ich das Filmemachen als eine Gemeinschaftsarbeit abbilden wollten. Unsere Idee war, jeweils Vertreter der wichtigsten Berufe aus den USA und Europa zu befragen. Philippe empfahl sich aus zahlreichen Gründen dafür und er war erfreut, dass sein amerikanisches Pendant im Buch David Raksin war, dessen Titelmelodie für »Laura« er außerordentlich schätzte. Er genoss es, von einem Bewunderer interviewt zu werden. Ich verstand zwar nicht viel von Musik, begriff aber, wie er sie dramaturgisch einsetzte und war fasziniert von ihren komplizierten Rhythmen, die er nicht allein mit Perkussionsinstrumenten, sondern auch Streichern herstellen konnte. Wenn er sich ereiferte und gar in Rage redete, was häufig vorkam, erinnerte er mich an Robert Morley, wie der in der Rolle von Kate Hepburns Bruder in »African Queen« einen Hitzschlag erleidet. Besonders beeindruckte mich die kleine Espressomaschine auf seinem Schreibtisch, die er regelmäßig in Gang setzte, um uns nachzuschenken. So vermied er, dass seine reizende Frau Clotilde seinen Redeschwall unterbrach.

Er war ein kluger, lebhafter Gesprächspartner. Seine Musik-und Filmbildung gingen Hand in Hand. Sein Vater hatte ihm früh einen Filmprojektor geschenkt, der ihn zu ersten Partituren inspirierte. Sein Kinodebüt feierte er mit nur 20 Jahren, es war gleich ein großartiges, »Die Dinge des Lebens« von Claude Sautet. Ich lernte viel über Klangfarben, Instrumentierung und die melodische Entwicklung einer Partitur. Manche seiner Behauptungen jedoch kamen mir wie Aufschneiderei vor. Aber dann las ich in Roman Polanskis Memoiren, dass er sich wirklich im Schneideraum unbedingt auf Philippes Rat verließ und dass dieser tatsächlich gegen die Schnitte gekämpft hatte, die Coppola, der amerikanische Co-Produzent von »Tess« ,verlangte. Er war stolz, dass Regisseure wie Jacques Doillon, Marco Ferreri, Sautet, Tavernier und André Téchiné ihm unverbrüchlich die Treue hielten und wie sehr Costa-Gavras und Jerry Schatzberg seinen Beitrag schätzten. Es bereitete ihm eine ungeheure Genugtuung, dass er Legenden wie Chet Baker, Stan Getz und Wayne Shorter als Solisten gewinnen konnte: ausgerechnet für einige Belmondo-Vehikel.

Wie die meisten Mitarbeiter Taverniers, die ich damals kennenlernte, war er ziemlich exzentrisch. Einer von ihnen stellte als Bedingung, dass ich bei unserem Gespräch keine Fotos von ihm machte, was mir ohnehin nicht in den Sinn gekommen wäre. Ein zweiter hatte die Angewohnheit, schon morgens um zehn Weißwein in beträchtlichen Mengen zu trinken, was sich bis in den Abend fortsetzen konnte, ohne dass eine Wirkung zu spüren war. Philippe war berüchtigt für gewisse Manien. Er hasste es beispielsweise, fern seiner Wohnung zu sein. Wenn dies doch unumgänglich war, bestand er darauf, ein Taxi zu nehmen: egal, ob seine Anwesenheit bei Dreharbeiten in Südfrankreich erforderlich war oder bei Aufnahmen in London. Nur einmal habe ich ihn anderswo als in der Avenue Niel erlebt, bei einem Filmmusik-Symposium eben in Gent, wo er erstmals David Raksin und Stanley Myers traf, ohne sich freilich eine Spur von Ehrfurcht anmerken zu lassen.

Kurz nach unserer ersten Begegnung drehte ich mit ihm Interviews für Fernsehdokumentationen über Raksin und Sautet. Während mein Kameramann das Licht setzte, unterhielt ich mich ausführlicher mit Clotilde. Sie war stets eine zurückhaltende Präsenz gewesen, schien gern im Schatten ihres Gatten zu stehen. Ihre Töchter hatten sie nach zwei seiner Filme genannt, Liza und Ponette. Bereits in Gent hatte ich sie als Jemanden kennengelernt, dessen Denken eminent visuell und räumlich ist. Während des Symposiums besuchte sie eine Ausstellung über mexikanische Wandmalereien, von der sie begeistert berichtete. Nun unterhielten wir uns über die Unterschiede zwischen Altbauwohnungen in Berlin und Paris. Sie holte einen Grundriss ihrer Wohnung hervor, die noch viel größer war, als ich anfangs vermutet hatte. Philippe registrierte unseren Gedankenaustausch mit einer Art doppeltem Besitzerstolz, der mich befremdete.

Im Laufe der Zeit telefonierten oder trafen wir uns gelegentlich. Er war allerdings nur erreichbar, wenn es ihm passte. Für ein, zwei Jahre fürchtete ich, er habe eine neue Telefonnummer. Aber dann rief er ab und zu doch zurück, manchmal Monate später. Als ich ihm von dem Projekt meines Freundes Binh erzählte, einen Dokumentarfilm über Sautet zu drehen, war er Feuer und Flamme. Wir mussten ihn noch am selben Tag aufsuchen. Nachdem Binh mir schon viele Türen zu Pariser Filmkreisen geöffnet hatte, war ich ungeheuer stolz, ihm nun meinerseits einen illustren Kontakt zu vermitteln. Philippe umarmte mich zur Begrüßung wie einen lange vermissten Freund, was mich nicht weniger erstaunte als meinen Begleiter. Er zeigte uns seinen Vorführraum, der gerade in seinem Appartement eingerichtet worden war (noch ein Grund, es nicht zu verlassen). An Binhs Film »Claude Sautet oder die unsichtbare Magie« wirkt er voller Elan mit. Dessen Einladung zur Eröffnung einer Filmmusikausstellung, die er ein paar Jahre später konzipierte, kam er nicht nach. Dabei fand sie nur ein paar Kilometer entfernt statt.

Zum letzten Mal sprach ich mit ihm, als er meine Meinung über einen Film hören wollte, den sein Bruder Alain produziert hatte. Auch bei dieser Gelegenheit war nicht in Erfahrung zu bringen, wie es zu ihrem Zerwürfnis gekommen war. Es war nicht das einzige in seiner Karriere: Von Polanski fühlte er sich nach »Piraten« verraten und missbilligte seine Heirat mit Emmanuelle Seigner, die er verantwortlich machte für den »Müll«, den er nun drehte. Zum Zeitpunkt unseres letzten Gesprächs hatte er sein immenses Arbeitstempo gedrosselt, wenngleich nicht freiwillig. Seine Regisseure waren inzwischen gestorben, zu alt oder hatten Probleme, neue Projekte auf die Beine zu stellen; andere wollten wohl auch einmal einen anderen Komponisten ausprobieren. Philippe suchte den Anschluss zur neuen Generation, was nicht ganz einfach war. Ich räumte ein, dass es für einen jungen Regisseur doch womöglich einschüchternd sei, mit einem Komponisten zu arbeiten, der schon Hunderte von Filmen hinter sich hat. Den Einwand ließ er nicht gelten: »Kennen Sie etwa Jemanden, der weniger einschüchternd ist als ich?« Es fiel mir nicht leicht, die richtige Antwort darauf zu finden.

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