Gentrifizierung

Videodrom

Die Videothek in meiner Nachbarschaft hat vor ein paar Monaten geschlossen. Sie gehörte zu einer Kette, die mit einem Schlag die Anzahl ihrer Filialen enorm reduziert hat. Es wäre Heuchelei, wenn ich nun ein Klagelied über diesen Verlust anstimmen würde. Dass der Laden zu ist, fiel mir erst sechs, sieben Wochen später auf.

Er war mir nützlich gewesen. Sein Angebot war breit genug, dass ich eigentlich immer fündig wurde, wenn ich Filme zu einem aktuellen Thema sichten wollte. Die Preispolitik kam mir entgegen. Manchmal lieh ich mir auch DVDs aus, um Lücken zu schließen und nachzuholen, was ich letzthin im Kino verpasst hatte. Ich ging eigentlich immer mit einem festen Plan hin, nur ganz selten überrascht ich mich damit, dass ich einen Titel aus purer Neugierde mitnahm. Mit den Angestellten wechselte ich in der Regel nur wenige Worte; ab und zu wunderten sie sich über die entlegenen Sachen, die ich auslieh. Sie hätten es gern gesehen, wenn ich zur Abwechslung mal einen Eisbecher oder eine Tüte Chips gekauft hätte. Die Filiale war keine Wunderkammer, die zum Stöbern einlud. Sie hielt keine unerwarteten Schätze bereit.

Nur einmal passierte mir dort etwas Wundersames. Während ich am Tresen wartete, fiel mein Blick auf ein Stück Papier, das wohl ein vorheriger Kunde hatte liegen lassen. Auf dem Zettel war eine Brücke in Australien abgebildet. Anscheinend handelte es sich um eine Quittung für die Mautgebühr. Wie nur mochte sie ihren Weg von einem fernen Kontinent ins beschauliche Schöneberg gefunden haben? Ein exquisites Geheimnis! Der Mitarbeiter, der mich bediente, hatte natürlich keine Antwort darauf. Im Internet fand ich immerhin heraus, dass es die Brücke tatsächlich gibt. Eine Weile bewahrte ich diese kuriose Flaschenpost in meiner Brieftasche auf. Vielleicht hoffte ich, meine Treue zu diesem Rätsel vergrößere die Chance, es zu lösen. Dann kam mir der Zettel irgendwann abhanden. Wer weiß, ob sich heute jemand anderes über die Weltreise des kleinen Fundstücks wundert ?

Nun besuche ich eine andere Filiale. Sie ist bequem zu erreichen, liegt nur drei U-Bahn-Stationen entfernt und hat ihre Preise nicht erhöht. In absehbarer Zeit wird bestimmt auch sie schließen und ich bezweifle, dass sie mir fehlen wird. Ich werde dann einfach nur ein Zeuge sein, wie sich ein vormals immens lukratives Geschäftsmodell überlebt haben wird. Mit dem Videodrom, einer der letzten Programmvideotheken, die es noch in Berlin gibt, verhält es sich ganz anders. Sie ist eine Wunderkammer, die ungeahnte Schätze bereithält. Sie ist kein Ort, an dem man sein Verleihgeschäft wortkarg tätigt.

Seit langem kämpft das Videodrom ums Überleben, wie alle Institutionen ihrer Art (siehe »Was kommt nach dem Funding? Hoffentlich die Crowd« vom 15. Mai letzten Jahres). Wie in dieser Woche zu erfahren war, geht es jetzt tatsächlich ums nackte Überleben. Das muss niemanden überraschen, der nur ansatzweise mitverfolgt hat, wie sich der Markt für Home Entertainment radikal zum Vorteil der Streamingdienste gewandelt hat. Schockiert sein darf man dennoch, wenn ein Kulturgut mit einem Mal zum Auslaufmodell wird.

Aber vielleicht hegte man zu lange die romantische Hoffnung, Verdrängungsprozesse würden hier ähnlich verlaufen wie auf dem Buchmarkt, wo die großen Ketten der Konkurrenz des Online-Handels kaum noch trotzen können, dieses aber kleinen, gut sortierten Buchhandlungen vorerst noch gelingt. Die Analogie stimmt insofern, als man das Videodrom mit derselben Aussicht auf kenntnisreiche, leidenschaftliche Beratung betreten kann wie den Buchladen seines Vertrauens. Das Geschäft lädt zum absichtslosen Stöbern ein (obgleich ich gestehen muss, dass ich es auch immer ziemlich planvoll betrete), das Angebot ist so drapiert, dass es auf Aktualität (Filmstarts, Todesfälle, Retrospektiven) geschmeidig und einfallsreich reagiert. So viel Cinéphilie wiegt die erklecklichen Leihgebühren auf. Aber gegen Netflix und Co. scheint noch weniger Kraut gewachsen zu sein als gegen den Marktführer (Amazon mischt ja auf beiden Geschäftsfeldern mit) des Bücherversands.

Das Videodrom hat jedoch nicht nur mit diesem Strukturwandel zu kämpfen. Es droht, ein weiteres Opfer der Gentrifizierung Kreuzbergs zu werden. Diese ist kein urbaner Mythos, wie vielfach behauptet wird, sondern eine reale Entfesselung des Marktes. Womöglich sind die anderen Inseln popkulturellen Anspruchs in der Umgebung des Marheinekeplatzes, der exzellente Comicladen und die patente Krimibuchhandlung, ebenso davon betroffen. Mir ist schleierhaft, wie der Wegfall solcher Institutionen die Attraktivität eines Stadtviertels steigern soll. Mir wäre es auch allemal lieber, wenn es sich doch nur um eine symbolische Gentrifzierung handeln würde, wie es Nicht-Berliner gern beschwichtigen. Auf dieser Ebene besäße das Videodrom allein schon mit dem Beinamen seines Inhabers ein hübsches Gegenargument: Ein Graf dürfte, auch wenn er sich Haufen nennt, in der Hierarchie des Adelsregisters höher stehen als der niedrige Landadel.

Leider jedoch sind die Probleme der Videothek nicht sinnbildlich, sondern wirklich. Die Mietschulden sollen inzwischen 20000 Euro betragen. Der Bestand an DVDs, Blu rays und Videocassetten – ja, auch die halten Graf Haufen und seine Mitstreiter noch vorrätig, sie sind offenkundig keine Freunde von Verdrängungsprozessen – umfasst rund 35000 Titel. Für ein solches Angebot braucht man natürlich Platz. Aber nun vor allem Fürsprecher. Jörg Buttgereit, der im Deutschlandfunk eine staatliche Unterstützung für Programmvideotheken fordert, kann ich nur zustimmen. Sie erfüllen längst die Funktion eines Archivs. Zwar genügen sie nicht dessen klassischer Definition, wie der Medienwissenschaftler Tobias Haupts mir einmal erklärte, als ich ihn für eine Radiosendung zum Thema interviewte. Dafür eignet ihnen eine unordentliche Lebendigkeit. »Sie sind Archive für eine gewisse Zeit, die immer im Fluss sind,« meint er, »aber einen ganz seltsamen Umgang mit Geschichte haben, weil sie nicht das Nacheinander von Geschichte zeigen, sondern das stetige Jetzt. Also: Alle Filme sind da, alle Filme sind gleich. Das heißt, was '72 veröffentlicht wurde, steht neben dem, was 2015 veröffentlicht wurde.« Ich finde das eine sehr erfreuliche, stimmige Beschreibung dessen, was das Videodrom seit jeher leistet. Und das soll nun schnöden Mietpreiserhöhungen zum Opfer fallen? Der Laden in meiner Nachbarschaft, in dem bis vor einem halben Jahr die Videothek war, steht übrigens noch immer leer.

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